Am 10. Mai wurde das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dient der zentral gelegene Gedenkort Lebenden und kommenden Generationen tatsächlich zur Mahnung? Eine kritische Begehung

Von Stein zu Stein hüpft das kleine Mädchen. Spielerisch, leichtfüßig. Als ob es auf diesen grauen Steinen einen schmalen Bach trockenen Fußes überqueren wollte. Die blonden Haare flattern bei jedem Sprung in der lauen Sommerluft, bis es den letzten Stein in dieser Reihe erreicht. Hier verharrt das Mädchen, verschnauft einen Moment. Gerade will es sich umdrehen, wieder Anlauf nehmen, da tritt ein Mann an es heran. Er trägt eine graue Uniform und sieht ziemlich ernst drein. Er gestikuliert kurz, dann steigt die Kleine vom Stein herunter und geht hinüber zu ihrer Mutter.

Hüpfen verboten!

Gerade mal drei Wochen ist es her, dass Bundestagspräsident Wolfgang Thierse das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas im Stadtzentrum von Berlin einweihte. Als zentraler Gedenkort der Bundesrepublik soll es die „Erinnerung an ein unvorstellbares Geschehen wach halten“. So hatte es der Bundestag 1999 in seinem Beschluss gefordert, ein Mahnmal in Berlin – unweit von Brandenburger Tor und Reichstag – zu errichten. Von April 2001 bis Mai 2005 waren auf dem 19.000 Quadratmeter großen Gelände Über 2.700 Stelen aus dem Boden gewachsen. Jeder dieser Betonblöcke hat dieselben Maße: 0,95 Meter Länge mal 2,38 Meter Breite. Nur in der Höhe unterscheiden sie sich, was dem Stelenfeld von oben betrachtet die Anmutung einer Wellenlandschaft verleiht. „Alle künftigen Generationen soll das Denkmal mahnen“, so der Beschluss weiter.

Und dann das! Kaum war das Mahnmal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, gab es die ersten Skandal-Bilder: Darauf waren Jugendliche zu sehen, die von einer Stele zur anderen hüpften. Unerhört! echauffierten sich Boulevardzeitungen wie die „B.Z.“ oder das TV-Politmagazin „Kontraste“. Das Mahnmal als Abenteuerparcours? Ein Mangel an Pietät und das Unvermögen, Trauer anständig zum Ausdruck zu bringen, so das Urteil der Journalisten. Nur – entrüsten sie sich zu Recht?

Die Sonne scheint auf das Mahnmal. Gleichmäßig reflektieren die glatten, grauen Oberflächen der Betonpfeiler das Licht. Wie Dominosteine stehen sie fein säuberlich aufgereiht da, in perfekter Einförmigkeit. Die Äußeren Steine sind nur wenige Zentimeter hoch, höchstens einen halben Meter. Langsam wachsen sie empor, wenn der Besucher an ihnen vorbei schreitet. Hüfthoch, brusthoch, kopfhoch, dann Überragen sie einen. Bis zu fünf Metern Höhe im Zentrum des Stelenfeldes. Die Gänge sind lang, aber nicht endlos. Egal in welche Richtung der Besucher blickt, der Ausgang ist immer in Sicht.

Eigentlich sollte es nicht so sein. Eigentlich wollte der New Yorker Architekt Peter Eisenman ein Dickicht schaffen. Die schiefen Stelen, die wellenförmige Oberfläche – in diesem Gebilde sollte der Besucher seinen Emotionen freien Lauf lassen. Und welchen? Diese Frage hatte der Architekt bewusst nicht beantworten wollen. Stattdessen solle das Denkmal versuchen, „eine neue Idee der Erinnerung zu entwickeln, die sich deutlich von der Nostalgie unterscheidet“. Nostalgie – ein Begriff, der mit der Auslöschung von sechs Millionen Menschen schwer in Einklang zu bringen ist.

Darf man auf einem Mahnmal herumhüpfen? Der Architekt lässt die Betrachter bei dieser Frage allein. Aber vielleicht gibt es andere Institutionen, die hier moralische Führung vermitteln können? Vielleicht die Initiatoren?

Ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas – immer wieder hatten die Publizistin Lea Rosh und ihr Förderkreis diese Forderung wiederholt. Mit Erfolg. Doch mit dem Erfolg kam die Aufmerksamkeit, und mit der Aufmerksamkeit die Skandale. Da war die Geschichte mit dem Werbeplakat: Eigentlich sollte es Spenden einwerben. Aber die aggressive Aufmachung, eine Anspielung auf die Auschwitz-Lüge, nach der der Massenmord an den Juden nie stattgefunden hat, verärgerte sogar den Zentralrat der Juden. Und dann – rechtzeitig zur Eröffnung – der Eklat um den Zahn. Während ihrer Rede hielt Rosh einen Zahn in die Höhe. Den hatte sie angeblich im Sand eines Vernichtungslagers in Polen gefunden. Sie habe geschworen, den Zahn im Mahnmal zu beerdigen, sagte Rosh – und brachte damit gleich wieder die Öffentlichkeit gegen sich auf, kam ihr Plan doch einer Entweihung der Opfer gleich.

Ist den Besuchern ihre Taktlosigkeit angesichts dieser Patzer noch zu verübeln? Müssten diejenigen, die in einer solch schwierigen Angelegenheit geistige Führung beanspruchen, nicht eigentlich mehr Fingerspitzengefühl an den Tag legen? Ist es tatsächlich so, dass die Menschen auch nach 60 Jahren nicht endlich die angemessenen Gefühle und Gesten könnten, wie Petra Lidschreiber im Fernsehmagazin „Kontraste“ klagte?

Es sind nachfolgende Generationen, die Denkmäler errichten. Das ist offensichtlich, doch der Gedanke führt zum Kern der Sache. Wie sollen Menschen, die das Leid, die Angst und das Grauen eines Völkermordes nicht erlebt haben, die in einer friedlichen, sicheren und behüteten Welt aufgewachsen sind, wie sollen diese Menschen für das Unfassbare, das Entsetzliche eine geeignete Form finden?

Es ist immer leicht, den anderen einen Mangel an Frömmigkeit und Respekt vorzuwerfen. Aber wenn ein Mahnmal seine Funktion nicht erfüllt – den Lebenden zur Mahnung zu dienen – liegt der Fehler dann nicht vielmehr im Konzept? Einem Konzept, das anfänglich ein reines Kunstwerk vorsah. Ohne Information, ohne Antworten. Das unterirdische Informationszentrum wurde erst nachträglich und gegen den Willen Eisenmans in den Entwurf eingefügt. Müssen die heute Lebenden nicht ratlos bleiben angesichts einer solch inhaltlichen Leere?

Respekt, Trauer und Gedenken entstehen nicht einfach im luftleeren Raum. Sie wachsen vielmehr aus dem Verstehen, dass es diese Vergangenheit tatsächlich gegeben hat. Erfahrbar wird diese Vergangenheit jedoch nicht an zufällig gewählten Orten, sondern an Plätzen, die mit den Toten verbunden sind – ein Grund, warum auf Friedhöfen keine Kinder von Grabstein zu Grabstein hüpfen. Unter diesen Umständen wäre es vielleicht besser, die Menschen dazu zu bringen, nach Auschwitz, Bergen-Belsen oder Dachau zu fahren – anstatt sie dafür zu schelten, dass sie gegenüber künstlich gemachter Betroffenheit nichts empfinden.

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