Zuletzt auf dem Rückflug aus der Türkei – ein Warnruf aus der Sitzreihe hinter mir reißt mich aus dem Dösen. „Gurke! Gurke!“ ertönt es.

Getreu dem Glauben, dass es auch Dinge geben mag, die ich selbst nie gesehen oder gehört habe, die mein Vorstellungsvermögen übersteigen und von denen mir gar meine Großmutter nie erzählt hat, male ich mir die Gefahren aus, die von einer Gurke ausgehen könnten. Wer weiß, vielleicht nähert sich gerade eine Fluggurke, die Soldaten aus Versehen oder aus Spaß statt einer Rakete in den Himmel geschossen haben, der Turbine unseres Flugzeuges, da kann man dann nur heilfroh sein, dass es keine Rakete ist, sondern nur eine Gu…

„In der Türkei sieht jede Gurke anders aus. In Deutschland sehen alle Gurken gleich aus. In der Türkei sind sie krummer.“ Ach so, keine Gefahr, sondern Völkerverständigung war hier im Verzug beziehungsweise im Anflug. Und das mit vollem Einsatz. Das deutsche Ehepaar hat sich wahrlich alle Mühe gegeben, dem türkischen Sitznachbarn mit Händen und Füßen die frisch gewonnenen Erkenntnisse aus dem Türkeiurlaub, nämlich die unterschiedlichen Krümmungsgrade der gemeinen Gurke zu vermitteln. So suchten sie ungebremst über die sprachlichen Hürden hinweg in einer Mischung aus Deutsch, Türkisch und Englisch nach Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten in den Frucht- und Gemüsesorten ihrer Kulturen. Aber Gurke, mehr oder weniger krumm, der wahre Wert dieser Unterhaltung befindet sich auf einer ganz anderen Ebene.

Ich unterstelle, dass der türkische Passagier in Deutschland bestimmt nie oder zumindest nur selten so offen von Deutschen angesprochen wurde, dass er die Deutschen bislang meist anders erlebt hat als wild mit den Armen fuchtelnd und laut Worte blökend (außer im Karneval oder beim Fußball). Vielleicht ist ihm klar, dass sich ein Deutscher, der gerade erholt aus der Sonne kommt, lecker gegessen hat und im Ausland als Minderheit freundlich behandelt worden ist, anders verhält als man ihm in seinem Heimatland begegnet: gestresst mit allem, was dazu gehört, ohne darauf näher einzugehen. Aber trotzdem! Dass sich Menschen austauschen, annähern und wohlwollend ihrer Unterschiede gewahr werden, ist schon ein dolles Ding an sich. Bei der Gurke fängt es an, und würde der Flug länger dauern, träfe man sich bei der Landung womöglich im gemeinsamen Gebet.

Jedenfalls, das Gespräch gab mir zu denken. Denn ich selbst kam just von einem Arbeitstreffen, in dem wir uns tagelang altklug und naseweis über interkulturelle Verständigung und das ganze Trallala der Integration den Kopf zerbrochen haben. Wie es denn gehe, was es dazu brauche und warum es nicht klappe. Und da wir schon mal im Ausland und ganz in den Prozess des Reflektierens und Analysierens eingetaucht waren, haben wir alles, was uns in die Quere kam, gleich mal fachkundig interpretiert. Und dabei wahrscheinlich das Blaue vom Himmel herunter gedeutet. Neben dem, was wir augenscheinlich sahen, hat uns besonders interessiert, was wir nicht sahen. Zum Beispiel ließen sich im Stadtbild die Frauen vermissen. Das lässt viel Spielraum für wilde Spekulationen. Wirklich erforscht haben wir es allerdings nicht, wobei in diesem Fall eine einfache Frage an die heimische Bevölkerung vor Ort als „Forschungsmethode“ vollkommen ausgereicht hätte. Seltsam, dass wir das versäumt haben, wo wir als Evaluatoren doch ständig irgendwen befragen. Aber auch ich sollte noch meine Chance erhalten. Über das gemeinsame Lauschen und Schmunzeln über den Gurkendialog kamen sich meine türkische Sitznachbarin und ich schließlich näher, darüber fingen auch wir ein Gespräch miteinander an. Und so konnte ich mir ein Beispiel an dem Ehepaar nehmen und wild drauflos fragen, was ich zuvor sah, aber nicht verstand. Der Gurke sei Dank!

Julia Siebert

16/11/07

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