Nach dem „großen Schweigen“ zwischen 1941 und 1955 versuchte Johann Warkentin, die deutsche Sprache in der Sowjetunion wiederzubeleben, später kämpfte er gegen „Sprachschludrigkeit“ und „Sprachverhunzung“. Vor allem aber schrieb er selbst zahlreiche Gedichte, Artikel und Bücher. Nina Paulsen von „Volk auf dem Weg“ würdigt Warkentin an seinem heutigen 100. Geburtstag mit einem Beitrag, den die DAZ übernimmt.

Es ist schwer zu sagen, was Johann Warkentin mehr war: Dichter, Literaturkritiker, Sprachforscher, Nachdichter, Lektor, Essayist oder Pädagoge. Jahrzehntelang sind Gedichte und Poeme, Glossen und Rezensionen aus seiner Feder geflossen, er hat redigiert und korrigiert, Lehrbücher verfasst und leidenschaftliche Vorträge gehalten. Seine flotte Schreibweise, die deutliche Tonart und verschlüsselte Gedankengänge ließen aufhorchen und brachten geistiges Potenzial in Bewegung. Er gehörte zu den streitbaren Verfechtern der deutschen Sprache, der die Entwicklung der russlanddeutschen Presse und Literatur der Nachkriegszeit maßgebend mitgeprägt hat. Mit seinem Werk war und bleibt er ein Brückenbauer und Vermittler zwischen Sprachen und Kulturen.

Johann Warkentin wurde am 11. Mai 1920 in Spat auf der Krim geboren. In der Spater Mittelschule im großen Mennonitendorf war er Klassenbester, stundenlang konnte er in Wörterbüchern herumstöbern. Die klassenbeste Schülerin war Lilli Eigeris, die zukünftige Begleiterin seines Lebens. Sein Studium der Anglistik in Leningrad ab 1937 wurde abrupt mit dem Kriegsausbruch unterbrochen. Im Blockadewinter 1941/42 war er Militärdolmetscher, danach von 1942 bis 1946 Zwangsarbeiter in Sibirien.

Nach dem Krieg beendete Warkentin erfolgreich sein Anglistikstudium und unterrichtete Englisch, Deutsch und Latein an Schulen und Hochschulen in der Altairegion, später in Kasachstan und Baschkirien.

Johann Warkentin und sein Kampf gegen den Sprachverlust

Sobald es ging, versuchten Warkentin und andere, die während des „großen Schweigens“ 1941 bis 1955 verschüttete deutsche Sprache in der Sowjetunion wiederzubeleben. Als er von der ersten deutschen Zeitung der Nachkriegszeit „Arbeit“ im sibirischen Barnaul erfuhr, wollte er unbedingt dabei sein. 1955 bis 1957 gehörte er zur Redaktion der „Arbeit“, die wegen „autonomistischer Bestrebungen“ aufgelöst wurde. In den 1960er Jahren stand Warkentin in der vordersten Reihe der Autonomiebewegung, war 1965 Teilnehmer der Delegationen der Russlanddeutschen in dieser Angelegenheit, erlebte hautnah Enttäuschungen und Niederlagen.

Danach arbeitete er in Alma-Ata beim Deutschen Rundfunk, sang begeistert in einem deutschen Chor und wurde Lehrstuhlinhaber bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Auch als Mitverfasser von Lehrbüchern für die „Deutsche Literatur“ (zusammen mit Victor Klein) in Schulen mit muttersprachlichem Deutschunterricht in den Siedlungsorten von Russlanddeutschen gehörte Warkentin zu denen, die sich bemühten, den Sprachverlust zumindest zu verlangsamen.

Von 1969 bis 1980 war Johann Warkentin Redakteur und viele Jahre Literaturbeirat der deutschsprachigen Wochenschrift „Neues Leben“ in Moskau. Auf diese Weise begleitete und förderte er maßgeblich die Entwicklung der russlanddeutschen Literatur der Nachkriegszeit. Er war auch selbst ein produktiver Autor, wurde 1963 Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR.

Ausreise in die DDR und Leben in Ostberlin

In den 1960er und 1970er Jahren erschienen von ihm in Buchform: „Lebe nicht für dich allein. Gedichte, Poeme und Übersetzungen“ (Alma-Ata,1966); „Stimmen aus den fünfzehn Republiken. Ausgewählte Nachdichtungen“ (Moskau, 1974); „Kritisches zur sowjetdeutschen Literatur“ (Moskau, 1977); „Gesammeltes. Verse und Nachdichtungen“ (Moskau, 1980); „Streiflichter aus der Kulturgeschichte. Literaturkritische Artikel“ (Alma-Ata,1981).

Zu seinen dichterischen Höhepunkten gehört das 1962 vollendete Poem „Du, eine Sowjetdeutsche“, das in die Sammelbände „Lebe nicht für dich allein“ und „Gesammeltes“ aufgenommen wurde. 1981 reiste er in die damalige DDR aus und lebte in Ostberlin. Hier verfasste er unter anderem Übersetzungen, darunter für die Zeitschrift „Sowjetliteratur“.

Populär auch im Westen wurde Warkentin nach der Wende. Er nahm aktiv an der Gründung der Landesgruppe Berlin der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland teil. 1992 veröffentlichte er „Russlanddeutsche – Woher? Wohin?“ – ein Buch, das damals dringend nötig war. Und er gab seine literarischen Erfahrungen an junge Autoren in dem 1995 in Bonn gegründeten Literaturkreis der Deutschen aus Russland weiter. Gleichzeitig wurde er Herausgeber der ersten literarischen Sammelbände der LmDR, „Wir selbst“ (1996, 1997, 1998).

Bundesverdienstkreuz für Johann Warkentin

In kurzen Abständen folgten weitere Bücher: „Russlanddeutsche Berlin-Sonette“; „Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“; „Nachdichtungen –
Höhepunkte der russischen Lyrik“; „Übersetzers Frust und Freud“; „Spuren im losen Sand. Gesammelte Verse“; „Russlanddeutsche – Woher? Wohin?“ als erweiterte Neuauflage (2006). Dazwischen erschienen zahlreiche, überwiegend literaturkritische Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften.

2002 wurde Johann Warkentin mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Auf diese Weise würdigte der deutsche Bundespräsident Johannes Rau das Engagement des Dichters im Bereich der politischen, geistigen und gesellschaftlichen Integration der russlanddeutschen Spätaussiedler in Deutschland.

Warkentins Passion war das Hegen und Pflegen der deutschen Muttersprache. „Sie war mein Stolz, mein Leid, mein Traum, mein Trauma… / sie war mein Seelentaumel, / die deutsche Muttersprache, als wir kaum noch / ein wenig Luft bekamen, denn brutal / hielt Stalin seinen tabakgelben Daumen / an unsere Kehle damals festgekrallt…“

Der zornige alte Mann der russlanddeutschen Literatur

Dieses eindringliche, unter die Haut gehende Liebesbekenntnis zur deutschen Muttersprache ist nicht nur das Leitmotiv seines Werkes „Übersetzers Frust und Freud“, sondern es steht neben dem Kampf um die Rehabilitierung seiner Volksgruppe für seinen Lebenssinn.

Als unermüdlicher Kämpfer – oft als Rufer in der Wüste! – gegen die allgemeine „Sprachschludrigkeit und Sprachverhunzung“ hatte er sich den Ruf „eines zornigen alten Mannes der russlanddeutschen Literatur“ eingehandelt. Bei der Bergung dieser umstrittenen russlanddeutschen Literatur aus den Trümmern hat Warkentin kräftig mitgeschuftet: als wortgewaltiger Kritiker und „Stilfritz“.

Den Frust über diese wechselvolle und hoffnungsträchtige Zeit (die Erwartungen waren vergebens!) hat er sich mit der „Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“ (1999, Stuttgart) von der Seele geschrieben. Als Zeitzeuge und Mitgestalter hielt er kritisch (auch sich gegenüber), mitunter auch sarkastisch-verbittert und gnadenlos, einer ganzen Epoche der russlanddeutschen Literaturbewegung den Spiegel vor. Aus persönlicher Perspektive aufgearbeitet, nahm er Dutzende Autoren der Vergangenheit und Gegenwart unter die Lupe.

Johann Warkentin, ein Brückenbauer

Als Nachdichter war Warkentin ein Vermittler zwischen den zwei großen Sprachen und Kulturen. In der zweisprachigen Anthologie „Nachdichtungen – Höhepunkte der russischen Lyrik“ (2000, Verlag BMV Robert Burau) sind seine schönsten Übersetzungen zusammengefasst. Ein Brückenbauer, der beide Ufer, beide Sprachen hervorragend kennt – das hätte sich Warkentin auch für seine Landsleute hier gerne gewünscht: „Schön wäre es, beider Sprachen vollen Klang / zu hegen und zu pflegen lebenslang! / Doch es gibt normalerweise keine Zwitter.“

Auch in den „Russlanddeutschen Berlin-Sonetten“ (Stuttgart, 1996) – in 130 Sonetten skizziert Warkentin die Geschichte der Deutschen aus Russland, das Aussiedlertrauma sowie das geteilte und wieder zusammengefügte Deutschland – nimmt er Stellung. Voll scharfen Humors, beißender Satire und berührender Lyrik, vermittelt das Buch, wie ein Deutscher aus Russland dieses Land, sich selbst und seinesgleichen sieht. In der Hoffnung, Einheimische und Spätheimkehrer gleichermaßen anzusprechen, weil „jene nichts über uns und wir recht wenig über Deutschland wissen“.

Mit dem Buch „Russlanddeutsche. Woher? Wohin? – von Katharina der II. (der Großen) bis in die Gegenwart“ (erweiterte Neuauflage 2006, Verlag BMV Robert Burau) setzte Johann Warkentin seinen jahrzehntelangen Kampf gegen die „Verhunzung“ der deutschen Sprache fort: nicht als Zaungast, sondern als Zeitzeuge und Mitgestalter vieler Entwicklungen der russlanddeutschen Nachkriegskulturgeschichte in der Sowjetunion. In seinen Texten erläutert er die Entwicklungen und Ereignisse seines Lebens und der Volksgruppe aus seiner persönlichen Sicht. Seine mitunter herbe Tonart lässt aufhorchen und provoziert zum Nachdenken, Mitdenken, Umdenken und Weiterdenken.

Gratwanderung zwischen Hoffnung und Enttäuschung

Der Sammelband „Spuren im losen Sand. Gesammelte Verse“ (2005, Verlag BMV Robert Burau) ist eine Art dichterische Bilanz, die weit über das Persönliche hinausreicht und eine Zeit– und Geschichtsentwicklung literarisch verarbeitet, die für die Deutschen aus Russland in vielerlei Hinsicht schicksalhaft ist. Darin kehrt Warkentin immer wieder zurück zu den widersprüchlichen Befindlichkeiten der Deutschen aus Russland, ihrer inneren Zerrissenheit und den Bemühungen, ihre Identität im Land der Vorfahren wiederzufinden oder neu zu entdecken.

Es werden darin unterschiedliche Standpunkte reflektiert, die er seit Jahrzehnten mal im Verborgenen, mal im Meinungsstreit eingefangen hat. Ausschlaggebend – sprachlich wie inhaltlich – ist die Art, wie Warkentin die Dinge hinterfragt. Über 410 Seiten wandert der Leser mit dem Dichter Warkentin durch zahlreiche Stationen seines Lebens, seines Werkes und seiner Zeit. Eine Wanderung buchstäblich „im losen Sand“, weil es immer wieder eine Gratwanderung zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen Entwurzelung und Beheimatung, zwischen Identitätsverlust und Sprachfindung ist.

Mit Johann Warkentin, der am 9. April 2012 in Berlin verstarb und seine letzte Ruhe neben seiner Frau (neben dir, mein Reisekamerad!) fand, ging ein schicksalhafter Zeitabschnitt der russlanddeutschen Nachkriegsliteratur und Kulturgeschichte zu Ende.

Festschrift zum 100. Geburtstag von Johann Warkentin
Demnächst erscheint beim BKDR Verlag (Bayerisches Kulturzentrum der Deutschen aus Russland) eine Festschrift zum 100. Geburtstag von Johann Warkentin (ISBN: 978-3-948589-06-6). Anfragen unter: kontakt@bkdr.de oder 0911-89219599.

Nina Paulsen

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