In Deutschland hat Kernenergie bei weitem nicht den Status eine nachhaltige und grüne Energiequelle zu sein. Prof. Dr. Bodo Lochmann findet, dass die Angst der Deutschen vor Atomenergie eine „schlaue Angst“ sei.

Nach der Havarie im Kernkraftwerk (KKW) Fukushima 2011 hatte in der Welt eine neue Welle des kritischen Nachdenkens über die Notwendigkeit der Nutzung der Atomkraft eingesetzt. Die Ergebnisse fielen naturgemäß unterschiedlich aus. Deutschland hat am rigorosesten den Ausstieg aus der Kernenergienutzung für die Stromerzeugung angegangen. Bis 2022 sollen alle 15 Blöcke mit einer Gesamtleistung von etwa 20 000 MW auf Dauer vom Netz genommen und vorwiegend durch erneuerbare Energiequellen ersetzt werden. Das entspricht etwa der gesamten aktuellen Kraftwerksleistung Kasachstans. Das wird organisatorisch und finanziell ein Kraftakt, schließlich zeichnen sich die deutschen KKW durch gute und stabile Leistungsparameter aus und decken weit über die Hälfte des Strom-Grundbedarfs der deutschen Volkswirtschaft. Doch etwa 80 Prozent der Bürger verlangen den unverzüglichen Ausstieg aus der Kernenergienutzung, und das kann die Politik auf Dauer einfach nicht ignorieren. In Deutschland herrscht sozusagen traditionell eine sehr kritische Einstellung zur Kernenergienutzung, die teilweise sogar militante Züge in Form von gewalttätigen Massenprotesten annahm. Die KKW sollen noch in einem begrenzten Zeitraum helfen, den Übergang zur grünen Energiewirtschaft zu ermöglichen. Infolge der ungelösten Probleme der Lagerung großer Mengen hochradioaktiver Rückstände über tausende von Jahren, aber auch einer nicht geringen Anzahl von technischen Havarien im bisherigen Betrieb, ist in Deutschland die Kernenergie nicht mit dem Status nachhaltige oder grüne Energiequelle versehen, wie das zum Beispiel in Kasachstan der Fall ist.

Die Deutschen haben Angst vor der Atomkraft, was den Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energiequellen eindeutig mit beflügelt. Das manifestiert sich u.a. darin, dass der größte Teil der Investitionen in grüne Energiequellen von einfachen Bürgern, also nicht von Energieunternehmen realisiert wurde. Die Bürger selbst haben etwa 50 Prozent der Anlagen zur Nutzung von Sonne und Wind finanziert und nur etwa 10 Prozent die klassischen Energieunternehmen.

Generell bewirkt der Übergang zur Nutzung regenerierbarer Energiequellen eine ganze Reihe von grundlegenden Veränderungen in den Strukturen der Energieversorgung, die vereinfacht mit Dezentralisierung und Diversifizierung zusammengefasst werden kann. Windkraftanlagen, Sonnenkollektoren und Biogasanlagen sind mittlerweile zu Hunderttausenden auf den Dächern deutscher Häuser oder auf entsprechenden Grundstücken installiert und decken gegenwärtig etwa 27 Prozent des Strom– und 12 Prozent der Wärmebedarfs. Bereits etwa 9 Millionen Bürger nutzen täglich die Sonnenenergie für die meist teilweise Deckung ihres Energiebedarfs und diese Zahl wächst schnell weiter. Das hat Folgen der unterschiedlichsten Art. Zuerst: man sieht auf Schritt und Tritt entsprechende Anlagen, sie sind längst aus dem Stadium des Exotischen in die des Gewöhnlichen gewechselt.

Weiter: wer seinen Strom und seine Wärme selbst produziert, kauft sie nicht mehr ein. Das spüren die traditionellen Energieunternehmen mittlerweile sehr schmerzhaft in Form drastisch zurückgehenden Absatzes der in Großanlagen erzeugten Energie. Viele Kommunen streben nach Unabhängigkeit von den großen Energiekonzernen und erzeugen mit dem Geld der Bürger den in ihrem Ort benötigten Strom aus einem Anlagenmix selbst. Mittlerweile gibt es etwa 1.500 Gemeinden, die energieautark existieren. Solche Großstädte, wie München, Hamburg und Frankfurt streben ihnen nach und wollen bis 2020 ebenfalls energieautark sein. Für die Energiekonzerne bedeutet das, dass auf absehbare Zeit ihre bisherige Existenzgrundlage verloren gehen wird, sie also in heutiger Form nicht mehr benötigt werden.

Mit dieser „Demokratisierung der Energieerzeugung“ ist eine ganze Menge von technischen, organisatorischen und finanziellen Problemen verbunden, die letztlich daraus resultieren, dass es sich bei der Nutzung erneuerbarer Energiequellen um nicht weniger als eine Revolution handelt. Eine solche zeichnet sich immer durch Risiken und Chancen aus. Langfristig dürften bei der „Energiewende“ die Chancen überwiegen. Die Angst der Deutschen vor der Kernkraft kann sich so als eine „schlaue Angst“ herausstellen. Denn sie eröffnet doch eine ganze Menge von neuen Entwicklungs– und Gestaltungschancen einschließlich der Möglichkeit des dauerhaften Erschließens von großen internationalen Absatzmärkten für innovative Technologien.

Bodo Lochmann

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