In Kasachstan sollen sämtliche Kinderheime geschlossen werden. Die Kinder sollen stattdessen in einer Familie oder in familienähnlichen Strukturen aufwachsen. Das SOS-Kinderdorf Almaty kümmert seit mehr als 20 Jahren um Kinder, Jugendliche und Familien in Not.

Tatjana* kehrt mit einem kleinen Besen den Weg vor ihrem Haus. Sie trägt ein
T-Shirt mit bunten Einhörnern darauf, ihre Haare sind mit einem großen weißen Haarband zu einem Dutt zusammengebunden. Tatjanas „Mutter“ kommt aus dem Haus, richtet ihr die Haare und gibt ihr eine kurze Umarmung. Dann kehrt das Mädchen weiter. Tatjana ist sieben Jahre alt und geht in die erste Klasse. Seit anderthalb Monaten lebt sie in einem SOS-Kinderdorf. Bevor sie hierher kam, war sie in einem staatlichen Kinderheim untergebracht. Seitdem lebt sie mit sechs weiteren Kindern und einer Kinderdorfmutter als Familie.

Jedes Kind braucht stabile Beziehungen und Vertrauen

„Das Modell des SOS-Kinderdorfs beruht auf Beziehungsarbeit und Selbstständigkeit“, erklärt die Direktorin des Dorfes, Mira Sauranbajewa. „Die Kinder wachsen in familienähnlichen Strukturen mit einer konstanten Bezugsperson auf. So sollen sich stabile Beziehungen und Vertrauen entwickeln.“ Die Kinder werden in alle Entscheidungen, die sie betreffen, aktiv eingebunden. „Sie sollen lernen, ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. Dazu gehören auch die Erledigung von Haushaltstätigkeiten wie Einkaufen, Wäschewaschen oder Kochen“, so Sauranbajewa. Wichtig sei auch, dass die Herkunftsfamilien der Kinder wie Eltern, Geschwister oder Großeltern einbezogen werden. Denn: Zwischen 70 und 80 Prozent der Kinder im SOS-Kinderdorf sind sogenannte Sozialwaisen. Das heißt, sie haben Eltern, die jedoch nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern – sei es aufgrund einer Krankheit, Arbeitslosigkeit oder einer anderen Notlage.

Staatliche Kinderheime sollen geschlossen werden

Jedes Kind soll eine Familie haben, lautet nicht nur die Losung der SOS-Kinderdörfer, sondern auch der Regierung. Dafür sollen bis 2030 alle Kinderheime geschlossen werden. Die staatliche Kinderfürsorge wird reformiert, sodass Kinder in einer Familie oder in familienähnlichen Strukturen, wie dem SOS-Kinderdorf, aufwachsen können. Vor zwei Jahren wurden dazu neue Formen der familiären Obsorge, wie zum Beispiel Pflegefamilien, geschaffen und Adoption erleichtert. Von 2015 bis 2018 wurden in ganz Kasachstan 68 Kinderheime entweder geschlossen oder in andere Formen wie Familienzentren transformiert. 2018 lebten nach offiziellen Angaben noch 5.044 Kinder in 119 Kinderheimen.

In Almaty wurde das Kinderheim Nr. 2 bereits geschlossen. Bis Ende 2019 soll auch das Kinderheim Nr. 1 aufgelöst werden, in dem noch 58 Kinder und Jugendliche leben. Das SOS-Kinderdorf wird die Obsorge für 30 bis 40 Kinder und Jugendlichen übernehmen, erklärt Sauranbajewa. Sie meint: „Unsere Kinder sind offen. Sie kommunizieren, sind kontaktfreudig und lebendig. Die Kinder aus den staatlichen Kinderheimen sind verschlossen und schüchtern.“ Das Problem sei, dass es in staatlichen Einrichtungen Personal gebe, das alles erledigt. „Den Kindern fehlen die Fähigkeiten, sich um sich selbst zu sorgen“, sagt sie. Außerdem sei es durch das wechselnde Personal kaum möglich, stabile Beziehungen zu den Erzieherinnen aufzubauen. Sauranbajewa rechnet damit, dass es ungefähr anderthalb Jahre dauert, bis sich die Kinder aus dem staatlichen Kinderheim im SOS-Kinderdorf und seinen Strukturen eingelebt haben.

Das erste SOS-Kinderdorf wurde 1949 in Imst in Österreich gegründet. Seither hat das Konzept der Betreuung in familienähnlichen Strukturen weltweit Verbreitung gefunden. Das SOS-Kinderdorf in Almaty wurde 1997 gegründet. Heute gibt es drei SOS-Kinderdörfer in Kasachstan. Diese finanzieren sich hauptsächlich über Spenden und staatliche Betreuungsgelder.

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Familien in Notlagen unterstützen

Neun Familien mit jeweils sieben Kindern im Alter von sechs bis achtzehn Jahren wohnen hier. Zwei bis drei Kinder teilen sich ein Schlafzimmer. Zwei weitere Familien wohnen außerhalb des Dorfes in der Stadt. Seit Kurzem gibt es außerdem zwei SOS-Kinderdorf-Ehepaare, sodass die Kinder auch männliche Rollenbilder haben. Zwei der „Mütter“ arbeiten seit der Gründung im Kinderdorf. Die Arbeit als „Mutter“ ist sehr intensiv. Sie sind rund um die Uhr an ihrem Arbeitsplatz und haben nur vier Tage im Monat frei. Um Burn-Outs zu verhindern, haben die „Mütter“ regelmäßig Supervisionen, Trainings und einmal im Jahr vier Spa-Tage.

Das Kinderdorf in Almaty liegt an einem kleinen Fluss am Fuße des Kök-Töbe und besteht aus neunzehn einheitlichen Gebäuden. Die einstöckigen Häuser mit rotem Giebeldach sind über gepflasterte Wege miteinander verbunden. Neben den neun Familienhäusern gibt es ein Haus zur Unterstützung von Familien, ein Krisenhaus für Mütter, einen Kindergarten, administrative Gebäude und mehrere Spielplätze. Zwischen den Häusern wachsen Tannen und Büsche. Vor dem Eingang des Kindergartens steht eine Reihe Roller und Bobby-Cars in allen Farben. Der Kindergarten ist für alle offen. Die Plätze sind begehrt. Eltern müssen ihr Kind schon kurz nach der Geburt auf die Warteliste setzen um hier einen Platz zu bekommen.

In den Übergangshäusern des SOS-Kinderdorfes können Mütter in Notlagen mit ihren Kindern für bis zu sechs Monaten bleiben. Sie erhalten berufliche Trainings und Unterstützung, um wieder auf die Beine zu kommen. Darüber hinaus werden auch externe Familien im SOS-Kinderdorf betreut. Ein Team aus Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und einer Anwältin unterstützen und beraten Familien in allen möglichen Notlagen. Das Ziel ist, Kindern zu ermöglichen bei ihren Eltern zu bleiben und zu verhindern, dass sie Sozialwaisen werden. Ein Fokus liegt auch auf der Unterstützung von Pflege- und Adoptivfamilien. Vor allem jüngere Kinder werden von Familien aufgenommen. Ihre Eingewöhnungszeit beträgt circa anderthalb Jahre. Pflegekinder und -eltern werden während des Gewöhnungsprozesses durch Psychologen und Sozialarbeiter begleitet. Denn es sei das Wichtigste, zu verhindern, dass Kinder von ihren Pflegefamilien zurückgegeben werden und so eine zusätzliche Traumatisierung erleiden, betont Sauranbajewa.

Selbständigere Jugendliche leben im Wohnheim

Neben dem eigentlichen Kinderdorf gibt es noch ein Jugendprogramm. Ältere Jugendliche, die bereits etwas selbstständiger sind, werden in einem städtischen Wohnheim untergebracht. Derzeit sind es 17 junge Menschen zwischen 16 und 21 Jahren, die von drei Pädagoginnen betreut werden. Die Unterbringung im Wohnheim ist auch deshalb notwendig, weil im Dorf die Kapazitäten für ältere Jugendliche fehlen. Die externe Betreuung hat aber auch ihre Herausforderungen, erzählt Programmleiterin Alija Nurchabajewa. Einige halten die nächtliche Ausgangssperre nicht ein, und dann muss sich Nurchabajewa auf die Suche nach ihnen begeben. Meistens findet sie ihre Schützlinge in den umliegenden Internetcafés, wo diese übers Computerspielen die Zeit vergessen. Nurchabajewa erhält auch regelmäßig Anrufe von der Polizei, wenn die Jugendlichen in der Nacht aufgegriffen werden.

Die Frage nach der Unterbringung wird noch drängender, wenn die Kinder und Jugendlichen aus dem Kinderheim Nr. 1 übernommen werden. Mira Sauranbajewa rechnet damit, dass der Großteil der Neuankömmlinge in das Jugendprogramm kommen wird. Der Plan sei, schnellstmöglich ein eigenes Jugendhaus zu gründen. Derzeit sind sie auf der Suche nach einem geeigneten Ort. Wie das Haus und das zusätzliche Personal finanziert werden sollen, ist noch unklar.

Viele ehemalige Schützlinge bleiben auch nach ihrem Auszug mit dem Kinderdorf in Kontakt. So wie Schanar, die ihre „Schwester“ abholen möchte. Die beiden gehen gemeinsam in eine Sprachschule, um Englisch zu lernen. Schanar ist selbst mit drei Jahren in das SOS-Kinderdorf gekommen und hier aufgewachsen. Heute wohnt die 23-Jährige in einer eigenen Wohnung und geht einer regelmäßigen Arbeit nach. Gerade an Feiertagen kommen die Ehemaligen des Dorfes zu Besuch, viele bringen ihre eigenen Kinder mit. „Wir haben mittlerweile zahlreiche Enkel“, erzählt Sauranbajewa lachend.

Julia Schönherr

*Name geändert

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