180.000 Deutsche leben heute noch in Kasachstan. Die größte Gruppe unter ihnen bilden die 20- bis 29-Jährigen. Sie sind in einem unabhängigen Kasachstan sozialisiert, das sich die Politik des friedlichen interethnischen Miteinanders auf die Flagge geschrieben hat. Die Autorin ist der Frage nachgegangen, was es für diese Generation im Jahr 2018 bedeutet, deutsch zu sein.

Dirndl und Lederhosen, traditionelles Essen, Lieder und andere Folklore – so präsentieren sich nicht nur gerne deutsche Institutionen im Ausland, sondern auch die Veranstaltungen der Vereinigung der Deutschen Kasachstans „Wiedergeburt“ und dessen Jugendvereins „Vorwärts“ spiegeln dieses Bild wider. Fragt man junge Deutsche aus der Bundesrepublik, schütteln diese oft nur verständnislos den Kopf über ein Bild, das für sie nur so vor Stereotypen und Klischees tropft.

„Mit dem Dirndl assoziieren die Menschen in Kasachstan Deutschland und die deutsche Kultur“, erzählt die 22-jährige Anastassija Koroljowa. Die junge Frau mit den langen braunen Haaren hat an der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty „Internationale Beziehungen“ studiert und war schon mehrfach in Deutschland. Seit 2012 engagiert sie sich im Verein „Vorwärts“. „Der Verein ist Teil meines Lebens“, sagt sie.

In einem Land, in dem gerne betont wird, wie friedlich die mehr als 130 Ethnien hier zusammenleben und in den Pässen nicht nur die gemeinsame kasachstanische Staatsbürgerschaft, sondern auch die jeweilige Nationalität angegeben wird, pflegen die Kasachstandeutschen dieses Bild. Die kulturelle Folklore scheint für die Kasachstandeutschen heute wichtiges Merkmal ihrer Identität zu sein. Damit passen sie in das Bild, das in Kasachstan von den unterschiedlichen Ethnien gezeichnet wird. Tradition spielt hier eine große Rolle und dazu gehört eben auch, dass sich die unterschiedlichen Ethnien mit ihren Bräuchen und in ihren volkstümlichen Kleidern präsentieren: Die Südkoreaner tragen Hanbok, die Ukrainer Wyschywanka – und die Deutschen eben Dirndl und Lederhosen.

„Deutsche Tugenden“

Für Koroljowa entspricht Folklore ihrem eigenen Verständnis vom Deutschsein: „Deutsch zu sein, bedeutet für mich an erster Stelle den Traditionen zu folgen. Im „Deutschen Haus“ feiern wir deutsche Feste wie Ostern und Weihnachten. Natürlich sind das religiöse Feste, aber die gehören für mich zu meiner Nationalität dazu.“ Mit ihrer Mutter, die ethnische Deutsche ist, kocht und bäckt sie regelmäßig: Riwwelkuchen, Nudelsuppe, Weihnachtsplätzchen. Außerdem ist es ihr wichtig, die deutsche Kultur auch nach außen hin zu zeigen: „Ich möchte, dass andere Menschen sehen, wie schön die deutsche Kultur ist. Sie sollen nicht nur das Bild von Krieg und Faschismus im Kopf haben, wenn sie an Deutsche denken.“ Neben den deutschen Bräuchen achtet sie aber auch darauf, die russischen Traditionen ihres Vaters zu pflegen.

Interethnische Ehen sind für Deutsche keine Seltenheit in Kasachstan. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) über das „Zusammenleben der ethnischen Gruppen in Kasachstan“ weist darauf hin, dass gerade Ehen unter ethnischen Deutschen und Russen häufiger werden. Genaue Zahlen zur Häufigkeit von Mischehen Kasachstandeutscher kann die Studie zwar nicht vorweisen, unterstreicht jedoch die Tendenz hin zu deutsch-russischen Ehen.

Wie Koroljowa stammt auch Artjom Schirmer aus einer deutsch-russischen Familie. Der 24-Jährige arbeitet für die Verwaltung des „Deutschen Hauses“ in Almaty. Sein Vater ist ethnischer Deutscher und auch Schirmer ist seinem kasachstanischen Ausweis nach deutsch. Dennoch definiert er sich auf Nachfrage zuallererst als Russe. Zuhause sprechen sie ausschließlich Russisch, seine Familie pflege russische und orthodoxe Traditionen, erzählt er. „Eigentlich bin ich halb russisch, halb deutsch. Die russische Seite überwiegt vielleicht ein bisschen mehr, da meine Mentalität sehr russisch ist.“ Was es für ihn bedeute, deutsch zu sein? „Deutsche sind ordentlicher, arbeitsamer und pünktlicher“, antwortet er schmunzelnd.

Emotionales Deutschland

Liza Kin
Liza Kin (rechts) bei der Eröffnung ihrer Kunstausstellung Ende Mai in Almaty. | Foto: DAZ

Auf diese traditionellen, teilweise stereotypen Zuschreibungen trifft man häufig. Doch es gibt auch Kasachstandeutsche, die ein anderes Deutschlandbild – jenseits von Dirndl und Lederhosen – haben. Dazu gehört die Künstlerin Liza Kin. Die Almatynerin mit den kurzen blonden Haaren ist besonders davon beeindruckt, wie offen ihre Freunde in Berlin über ihre Gefühle und sich selbst sprechen können. „Vielleicht ist das nicht deutsch, sondern europäisch, aber irgendwie fühle ich mich jedes Mal freier, wenn ich in Berlin bin. In Deutschland fragt dich niemand, warum du mit Mitte zwanzig noch keine Kinder hast oder warum du jetzt erst deine Karriere startest. Selbst mit meinen 31 Jahren gelte ich dort noch als jung“, erzählt sie. Im vergangenen Jahr beschloss Kin, einen Antrag auf die Ausreise nach Deutschland zu stellen.

Seit einiger Zeit lernt sie Deutsch. Schließlich gehört zum Ausreiseprozess auch ein Deutschtest. Mindestens ein einfaches Gespräch müssen die Antragsteller auf Deutsch führen können. „Allerdings scheitern 70 bis 80 Prozent der beantragten Ausreisen aus diesem einfachen Grund“, erklärt ein Sprachtester, der namentlich lieber ungenannt bleiben will. Momentan wartet Kin auf die Bekanntgabe ihres Prüfungstermins.

Sprache als Teil der Identität?

Wo also ethnokulturelle Vereine versuchen, volkstümliche Bräuche aufrechtzuerhalten, ist dies mit der deutschen Sprache schwieriger. Für die junge Generation der Kasachstandeutschen ist in der Regel Russisch die Muttersprache, so Shoji Kitamura, der gerade an der Al-Farabi-Universität in Almaty seine Masterarbeit über die Sprachentwicklung innerhalb der deutschen Minderheit in Kasachstan schreibt. Erklären lasse sich dies vor allem durch die sprachlichen Restriktionen in der Sowjetzeit, die dazu geführt haben, dass Deutsch als Alltagssprache vielerorts verschwunden ist. Aber auch viele derer, die Deutsch konnten, sind zwischenzeitlich in die Bundesrepublik umgesiedelt.

Obwohl Anastassija Koroljowas Mutter und ältere Schwester in ihrer Kindheit manchmal noch Deutsch sprachen, hat sie erst mit Studienbeginn an der Deutsch-Kasachischen Universität (DKU) die Sprache richtig gelernt. Erste Grundkenntnisse hatte sie vorher durch den sporadischen Besuch von Deutschkursen sowie einen dreimonatigen Aufenthalt bei ihrer Großmutter in Deutschland in der neunten Klasse erworben. „Als Kind habe ich immer davon geträumt, Deutsch zu können“, erinnert sie sich. Für den Großteil der jungen Kasachstandeutschen wird Deutsch heute – wenn überhaupt – als Fremdsprache gelernt.

Wie die KAS-Studie zeigt, wird der Stellenwert der deutschen Sprache in Kasachstan zunehmend geringer. Die aktuelle Dreisprachenpolitik der Regierung zielt drauf ab, dass jeder Kasachstaner Kasachisch, Russisch und Englisch beherrschen sollte. Im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben ist Russisch noch in erster Linie die Kommunikationssprache, vor allem in den Städten. Doch die Bedeutung des Kasachischen nimmt zu. Schirmer, der erst vor kurzem seinen Wehrdienst absolviert hat, erklärt: „In der Armee wird zu 50 Prozent Russisch und zu 50 Prozent Kasachisch gesprochen.“ Die Beherrschung einer weiteren Sprache wie zum Beispiel Deutsch ist zwar wünschenswert, doch ist der praktische Nutzen im täglichen Leben gering.

Die Möglichkeit der Aussiedlung

Liza Kin eröffnen ihre Wurzeln die Möglichkeit, als Deutsche und nicht als Ausländerin nach Deutschland einzureisen – mit den entsprechenden rechtlichen Privilegien, die den entscheidenden Unterschied zu Wirtschaftsmigranten und Geflüchteten machen. Und ihre Pläne sind kein Sonderfall: Nach Statistiken des Bundesverwaltungsamtes ist seit einer Gesetzesänderung 2013 die Zahl der Ausreisewilligen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion wieder leicht angestiegen. Im vergangenen Jahr stammte die zweitgrößte Gruppe der Spätaussiedler und ihrer Angehörigen mit 2.690 Registrierungen aus Kasachstan. Die 30– bis 34-Jährigen stellten dabei mit 338 Ausreisen die größte Gruppe dar. Geht man nach den Zahlen wandern diese nicht allein aus, sondern bringen häufig ihre minderjährigen Kinder mit. Auch Kin hofft darauf, dass ihr 8-jähriger Sohn in Deutschland eine bessere Ausbildung als in Kasachstan erhält.

Artjom Schirmer mit dem deutschen Generalkonsul Jörn Rosenberg (links).
Artjom Schirmer mit dem deutschen Generalkonsul Jörn Rosenberg (links). | Foto: privat

Mit der Aussiedlung würde sie den Schritt machen, gegen den sich ihre Eltern in den 1990er Jahren bewusst entschieden haben. „Für meine geplante Aussiedlung gibt es keine politischen Gründe, ich bin keine wütende Künstlerin oder so“, erklärt Kin. „Aber ich habe nur ein Leben, und wenn es für mich möglich ist, nach Deutschland zu ziehen, will ich das probieren.“ Die Malerin wünscht sich, in Berlin Gleichgesinnte zu treffen. Abstrakte Kunst wie in ihren Werken ist in Kasachstan bisher nämlich eine Randerscheinung.

Für Artjom Schirmer und Anastassija Koroljowa käme eine Ausreise vor allem aus wirtschaftlichen Gründen in Frage. Für Schirmer scheint die Bundesrepublik die idealen Voraussetzungen zur Verwirklichung des „American Dream“ zu haben – vom Tellerwäscher zum Millionär. Priorität hat das aber nicht. Auch Koroljowa erklärt: „Ich möchte gerne mein Studium In Deutschland fortsetzen. Wo ich später aber einmal leben werde, hängt davon ab, wo ich einen Job finde.“

Transnationale Identitäten

Neben Folklore und Sprache gibt es aber auch bei Schirmer und Koroljowa andere Dinge, die Deutschland ausmachen. Schirmer begeistert sich für die deutschen Fußballvereine und die deutsche Geschichte. „Besonders die Zeit von Otto von Bismarck finde ich spannend. Damals, als Deutschland stark war“, erläutert er. Koroljowa interessiert sich für Politik, hört die Deutsche Welle und liest den Spiegel. Kontakte zur Bundesrepublik bestehen durch Freunde und Verwandte.

Die Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit eröffnet den jungen Kasachstanern zusätzliche Möglichkeiten: Sprachkurse, Freizeitaktivitäten oder internationale Austauschprogramme werden von der Bundesrepublik extra gefördert. Und auch Stipendien werden gezielt an Deutsche vergeben. „Durch das Stipendium des „Deutschen Hauses“ konnte ich mein Studium finanzieren“, so Schirmer. An der Kasachisch-Amerikanischen Universität hat er einen Bachelor in „Internationale Beziehungen“ gemacht. Seit der Studienzeit nimmt er an den Veranstaltungen im „Deutschen Haus“ teil. Deutsch lernt er seit der sechsten Klasse.

Die Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit ist aber nur eine Komponente der nationalen Identität junger Kasachstandeutscher. Das interethnische Leben in Kasachstan lässt ethnonationale Grenzen verschwinden. „Heute war ich zum Beispiel viel zu spät. Das ist meine kasachische Seite“, lacht Liza Kin. „Für mich ist in Kasachstan soweit alles gut. Ich fühle mich hier nicht ausgegrenzt“, sagt sie. Diese Beobachtung entspricht dem Ergebnis der Studie der KAS, die die Integration der Deutschen in Kasachstan mehrheitlich als positiv bewertet.

„Wenn ich in den Bergen oder der Steppe bin, merke ich, dass ich Kasachstanerin bin. Auch die Nationalhymne Kasachstans erzeugt in mir das Gefühl, zu diesem Land zu gehören“, bestätigt Anastassija Koroljowa. „Deutsch, Russisch, Kasachisch: Das zusammen ergibt eine Anastassija.“

Sabine Hoscislawski

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