In diesem Jahr hat sich Kolumnistin Julia Siebert behutsam durch den Karneval bewegt. Dabei merkte sie, dass ihr etwas fehlt: Karneval muss auch ein bisschen wehtun.

Ich bewege mich in diesem Jahr behutsam und achtsam durch den Karneval. Und merke – irgendetwas fehlt mir.

Wenn ich Revue passieren lasse, wie ich die bisherigen Tage verbracht habe, stelle ich fest: Ich war nur ein wenig angetrunken, aber nicht richtig betrunken. Habe gefroren, aber nicht zu sehr und nicht zu lange. Habe zugesehen, dass der Harndrang nicht zu stark wird. Habe an keiner Kneipe angestanden und sowieso die lauten und vollen Kneipen gemieden. Ich war relativ zeitig zu Hause. Habe nicht auf der Straße im Stehen Pommes Frites, sondern in einem richtigen italienischen Lokal mit Messer und Gabel Pizza gegessen. Ich habe nur kurz an zwei kleinen Zügen wenig Süßigkeiten gefangen und sie mir so eingeteilt, dass mir nicht schlecht wurde. Jetzt meldet sich eine Stimme in mir, die da ruft: So geht das nicht! So reicht das nicht. Karneval im Schonprogramm? Wo soll denn da der Spaß herkommen? Im Karneval muss man es krachen lassen. Im Karneval muss man leiden.

Und das geht so: Man muss in einer Warteschlange vor der Kneipe seines Vertrauens ein Weilchen stehen und frieren, um sich dann in der viel zu vollen und heißen Kneipe durch die Menge zu wühlen. Dabei schwupsen einem schwankende schunkelnde Karnevalisten Bier in den Kragen. Um selber Bier verkippen zu können, muss man ewig an der drängelvollen Theke anstehen. Dann brüllt man sich durch die viel zu laute Musik ein paar Sätze zu, die man trotzdem nicht versteht. Zwischendurch muss man sich zum Klo durchkämpfen, wo man sich in der ewig langen Warteschlange fast in die Hose pinkelt, um sich dann mühsam aus dem Kostüm zu kämpfen, wobei ein Teil des Kostüms durch den Bodensiff schleift. Dann kommt wieder die Nummer mit dem Bierholen. Es ist zu eng zum Tanzen, trotzdem ist man ruckzuck bis auf den Schlüpfer durchgeschwitzt. Die Schminke ist natürlich längst verwischt, und man hat einen Teil seiner Kostümutensilien verloren. Dann will man Frikadellen essen, aber die sind schon aus, also wird man viel schneller betrunken, als die Polizei erlaubt. Man will X Mal aufbrechen, schafft den Absprung aber nicht, um dann viel zu spät, viel zu betrunken und viel zu frierend an der Bahn-Haltestelle heimwärts zu warten. Die ausgebuchten Taxis sausen an einem vorbei. Ein Teil des Abends verschwindet im Filmriss. Am nächsten Morgen findet man sich allein oder neben einem Matrosen nur halb entkleidet und nicht abgeschminkt verkatert im eigenen oder fremden Bett wieder und wundert sich über die Telefonnummer, die einem jemand mit dem Kugelschreiber auf den Arm gekritzelt hat, wovon aber nur noch die Hälfte lesbar ist. Und fragt sich: War es der Wikinger, der Pirat oder der Frosch? Man durchsucht die Taschen nach Restgeld, wundert sich, wo die 50 Euro geblieben sind und findet nur Biermarken, die man nirgendwo mehr einlösen kann. Dann frühstückt man Rollmops und Süßigkeiten, die man am Zug gefangen hat und eigentlich gar nicht mag, bis einem so richtig schlecht wird. Reißt sich zusammen, schlüpft ins nächste Kostüm und geht wieder los.

Wenn das so abläuft, hat man alles richtig gemacht, und es war ein gelungenes Karnevalsfest, an das man sich lange erinnert. Zwei Tage bleiben mir noch, um nachzuholen, was ich bislang versäumt habe. Ab jetzt kein Schonprogramm mehr! Ich lasse mir vieles nachsagen, aber nicht, dass ich eine unengagierte Karnevalsmemme bin. Alaaf und Prost!

Julia Siebert

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