2017 jährt sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal. Am 7. November 1917 kam es in Russland zur endgültigen Machtübernahme durch die Bolschewiki. Die Oktoberrevolution hat aber auch in Kasachstan ihre Spuren hinterlassen. Erst durch sie konnte zum ersten Mal eine Art kasachischer Nationalstaat entstehen. Die 1920er Jahre gelten gar als „goldenes Jahrzehnt“ für Nationen.

Als die Oktoberrevolution 1917 in St. Petersburg ausbrach, war Kasachstan weit weg. Das Gebiet galt als Peripherie im Russischen Reich. Der Historiker Marco Buttino schreibt, dass “die Revolution via Telegraph” nach Zentralasien kam. In Kasachstan war die Machtübernahme durch Bolschewiken keineswegs willkommen. Dabei ermöglichte Revolution die Entstehung eines ersten kasachischen Nationalstaates. Selbst nach Gründung der Sowjetunion blieb ein kasachisches Nationalgefühl bestehen.

In Zentralasien gewann die Idee von ethnischen Nationalstaaten erst mit der Machtübernahme der Bolschewisten und der Gründung der Sowjetunion 1922 an Bedeutung. Obwohl in der marxistisch-leninistischen Theorie Nationalismus und Nationalstaaten nicht von allzu großer Bedeutung waren, korrelierte die Idee mit der Realität im russischen Reich. Infolge des Zusammenbruchs des Zarenreichs und der Oktoberrevolution erlangten nationale Gebiete, wie Armenien, Aserbaidschan, Belarus und die Ukraine die Unabhängigkeit. Sie hätten eine dominante Zentralregierung ohne die Zugeständnisse von nationalen Rechten abgelehnt, schlussfolgerte Lenin.

Zugeständnisse an Nationen

Der Schriftsteller und Historiker Isaac Deutscher fasst Dilemma der Bolschewiken im Jahr 1917 so zusammen: „Die Leninisten glaubten, dass der Sozialismus die Gleichheit von Nationen braucht; aber sie fühlten auch, dass die Wiedervereinigung der meisten, wenn nicht gar aller zaristischen Herrschaftsgebiete unter der Sowjetischen Fahne im Interesse des Sozialismus liegt.“ Obwohl Lenin sich also die Assimilation aller nationalen Gruppen wünschte, sah er die Notwendigkeit, Gleichheit und Souveränität vorzutäuschen, und stimmte der Gründung einer sozialistischen Föderation zu.

Die Politik der Korenisazija, die die Bolshewiken anschließend verfolgten, hatte zum Ziel nichtrussische Völker in den neuen Staat einzubinden, indem Minderheiten explizit gefördert wurden. Titularnationen wurden in ihren jeweiligen Republiken in den Bereichen Bildung, Wohnen und Arbeit bevorzugt behandelt. Für Zentralasien bedeutete das die Entstehung von den heutigen nationalen Identitäten. Offiziell, laut Verfassung, hatten die Sowjetrepubliken sogar das Recht auf Unabhängigkeit. De facto hätte aber kein sowjetischer Führer es jemals erlaubt, dass sie dieses Recht nutzen dürfen.

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Die Entstehung eines kasachischen Nationalgefühls

Während der Zeit des Russischen Kaiserreichs waren zahlreiche Siedler aus Russland nach Zentralasien, insbesondere Kasachstan gekommen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 lebten in Kasachstan mehr als eine Million Siedler aus Russland, darunter Ukrainer, Deutsche und Polen. Als der Zar versuchte, Zentralasiaten für den Militärdienst zu verpflichten, kam es 1916 zu spontanen Revolten und Demonstrationen von Kasachen, Kirgisen und Usbeken. Tausende Siedler wurden umgebracht, bevor die zaristische Armee einschritt, noch mehr Zentralasiaten umbrachte und hunderttausende Kasachen und Kirgisen nach China flohen.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich eine kasachische Elite herausgebildet, die von der russischen Kultur und dem russischen Lebensstil beeinflusst worden war. Diese Elite siedelte sich in Städten an und schickte ihre Kinder zur Ausbildung nach Russland. Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 forderte eine Gruppe westlich-orientierter Kasachen, die Gründung eines autonomen kasachischen Nationalstaates innerhalb Russlands.

Ein kasachischer Nationalstaat entsteht

Im Sommer 1917 fand der erste Allkirgisische Muslim-Kongress in Orenburg statt. Die Hauptforderungen waren die Erneuerung und Modernisierung des Islams in Mittelasien, das Recht der zentralasiatischen Steppenvölker (Kasachen und Kirgisen) auf das traditionelle Nomadentum und die Rücksiedlung der russischen Siedler. Im Dezember erklärten Vertreter der Baschkiren und der „Alasch“ ihre Autonomie innerhalb Russlands. Orenburg wurde die Hauptstadt der Alasch-Orda.

Die Baschkiren lehnten die Machtübernahme der Bolschewiki durch die Oktoberrevolution ab und damit kam es bald zu Spannungen zwischen der Sowjetregierung und der Alasch-Orda. Immer wieder kam es zu Aufständen gegen die Regierung in Russland. 1919 verloren die Truppen der Alasch-Orda gegen die Rote Armee und 1920 wurde das Gebiet unter der Bezeichnung „Kirgisische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ Sowjetrussland angeschlossen.

Die Situation der Deutschen in Kasachstan

Die Revolutionen des Jahres 1917 hatte die deutsche Bevölkerung in den Steppengebieten Turkestans kaum berührt. Doch nach Ausbruch des Bürgerkrieges wurde auch Turkestan zum Schauplatz von Kampfhandlungen. Deutsche kämpften sowohl für die Weißgardisten, also die zarentreuen Truppen, als auch für die Rote Armee. Allerdings beteiligten sich insgesamt nur wenige Deutsche an den Kämpfen.

Die Urbanisationsrate der Deutschen lag 1917 gerade einmal um die zehn Prozent. Die meisten deutschstämmigen Siedler waren Bauern und kümmerten sich wenig um Politik. Sie waren nicht in die kasachische Gesellschaft integriert und lebten entsprechend ihrer eigenen Kultur. In den Wirren des Bürgerkrieges wurden ihre Siedlungen sowohl von Weißen als auch Roten angegriffen. Viele verließen ihr Höfe und flohen, meist aber jedoch mit den roten Partisanen. Dementsprechend stellten sich Deutsche eindeutig gegen die Baschkiren. Auch deutsche und österreichische Kriegsgefangene aus dem Ersten Weltkrieg spielten hierbei eine Rolle.

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Ein goldenes Jahrzehnt

Die Korenisazija hatte für Kasachen wie Deutsche positive Effekte. Kasachen in der kasachischen Republik wurden gefördert, Deutsche erhielten eigene Schulen und Kulturzentren und ab 1924 auch ihre eigene „Wolgadeutsche Republik“. Die Vertreter der Alasch-Orda behielten bis 1928 die politische Führung in der Region und waren Teil der Kommunistischen Partei Turkestans. Danach begann Josef Stalin mit Säuberungen. Tamara Wolkowa, Professorin für Geschichte an der Deutsch-Kasachischen Universität, spricht von einem „goldenen Jahrzehnt für Minderheiten“.

Trotz der Korenisazija begann auch die Russifizierung in den nicht-russischen Sowjetrepubliken bereits unter Lenin und fand ihren Höhepunkt mit der Machtübernahme Stalins. In den nichtslawischen Gebieten wurde das Narrativ verbreitet, dass es dort vor der sowjetischen Regierung keine Kultur gegeben habe. Stalin legte Nationen zusammen (Slijanije) und begann mit Deportationen aus anderen Teilen der Sowjetunion nach Zentralasien und Sibirien. Auch die Hungersnöte in der Ukraine, Kasachstan und andernorts waren Teil der Politik. Mehr als ein Drittel der kasachischen Bevölkerung, rund 1,5 Millionen Menschen, starben am Holodomor.

Mit der Einführung einer neuen Verfassung 1936 wurde Kasachstan schließlich eine eigene Republik innerhalb der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Die Folgen der Nationalisierung Kasachstans spiegeln sich noch heute in der gesellschaftlichen Debatte über eine ethnische oder zivile Identität wieder.

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Othmara Glas

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