Klaus Hurrelmann war Redakteur der DDR-Illustrierten „FREIE WELT”, die von der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft herausgegeben wurde. Er publizierte 2001 das Buch “Meine irreparablen Kindheitsschäden oder: Der erste darf kein Schwein sein”, in dem er auch über seine Erinnerungen an Kasachstanaufenthalte schreibt. Es gab seinerzeit einen Reporteraustausch zwischen den Redaktionen in Ostberlin und Zelinograd. Heute ist er Rentner und lebt in Berlin. Auf Initiative von Nelly Frank, der Frau eines Freundes des Autors, und der Erlaubnis von Klaus Hurrelmann lesen Sie im Folgenden die Fortsetzung des Buchauszugs, der die Zeit in der „Freundschaft“ betrifft.

[…] In der Redaktion absolvierte ich die übliche Begrüßungsrunde mit vielen Shakehands. Nach Hause schrieb ich, daß mir lediglich ein Vorname in entzückter Erinnerung geblieben sei: Cornelius. Ich sah den Tag über Manuskripte durch. Mit „langen Zähnen“. Weil ich wußte, daß die fürs Redigieren vom Zelinograder Chefredakteur Leo Weidmann geforderte Strenge gewiß nicht gut wäre für die Leser. Und ich fürchtete, manchem Autor weh zu tun. An diesem Tag begann mein ausgesprochener Horror vor mundartlichen Texten, deren Schwäbisch oder Altfränkisch oder „Mennonitisch“ ich oft überhaupt nicht verstand, aber dennoch „stilisieren“ sollte. Ähnlich war es mit Werken der rührenden und berührenden sowjetdeutschen Lyrik, an die ich mich nur sehr, sehr behutsam wagte, obwohl sie fürsorgliches Lektorat bitter nötig gehabt hätten. Doch die Schöpfer dieser von tiefem Gedankengehalt durchdrungenen Verse waren aus den verschiedensten Gründen sehr, sehr sensibel. Und ich spürte doch immer so genau, weshalb sie zur Feder gegriffen hatten.

Bei all meinen Aufenthalten in Zelinograd bestand ein kaum stillbares Verlangen von Kollegen jeden Alters, von mir Authentisches über Deutschland zu erfahren und mit mir Deutsch zu reden. Die Spät-Aussiedlung „ins Reich“ etcetera gehörte in den ersten Jahren überhaupt noch nicht zu den Gesprächsthemen.

Am 1. Oktober 1980 erschien in der „Freundschaft“ der erste Beitrag einer Artikelserie „Von der Spree an den Ischim“, für dessen Aufrichtigkeit ich mich verbürge. Wenngleich er nicht frei ist von Irrtümern. Wie grotesk wirken meine Eingangsgedanken, wo ich über Arbeiter– und Erfahrungsaustausch – die DDR-Agitation nannte das die billigste Investition – unter sozialistischen Verhältnissen philosophiere. Und doch: Für den von mir erlebten und vertretenen Bereich habe ich nicht geflunkert. Das Kasachstaner Neuland nahm mir fast den Atem, so gewaltig waren die Dimensionen, denen ich mich hier gegenübersah. Sowchose von 30.000 Hektar landwirtschaftlicher Fläche waren die Regel, ihre Getreideschläge entsprechend endlos. Ganze Flottillen von Landmaschinen kurvten darauf herum.

Meine erste „Kommandirowka“ (Dienstreise; wahrscheinlich drang der Begriff aus dem Militärjargon ins Bürokratenrussisch) als Reporter der „Freundschaft“ führte mich gen Nordkasachstan. Eine Neunstundenfahrt mit dem „Wolga“. Heute ist mir klar – es war mein erster mehrtägiger Aufenthalt in der Nähe des Atom-Testgeländes Semipalatinsk. Davon ahnte ich nichts. Und darauf aufmerksam gemacht hat mich erst recht niemand. Vielleicht komme ich später einmal dazu, sämtliche so überaus gegenwärtige Erinnerungen an Kasachstan ausführlicher auszuarbeiten. Ich vermute, daß ich dort die emotionalste, erfahrungs– und arbeitsintensivste Zeit meines Berufslebens hatte. All das, was mich davon bewegt, kann ich in dieser Schrift keineswegs aus mir herauslassen. Es würde den Charakter dieses Manuskripts völlig verändern und seinen Rahmen sprengen. Dennoch, in einem Brief zum Jahreswechsel an meinen Freund Heidebrecht stellte ich einmal fest: „Wenn ich mir die in diesen Tagen ausgetauschten Gratulationen überdenke, dann kommt dabei klar heraus – die Mehrzahl wurde mit Leuten Eures ,Völkchens‘ gewechselt. Es bedarf zwar dieses ‚mathematischen‘ Beweises nicht, aber er bestätigt doch, wie wichtig meine Verbindung zur ‚Freundschaft‘ für mein ganzes Leben war und ist. Eine menschlich sehr wertvolle Phase.“ Nun aber los, mit dem „Wolga“ in Richtung Sibirien! Ich zitiere aus meinem Reisebericht für die „Freundschaft“. „Wer solch eine Fahrt auf dem Rücksitz im Wagen verschlummert, ist um ein unvergeßliches Erlebnis ärmer“, eröffnete ich den Lesern der sowjetdeutschen Tageszeitung. Mir war für meine Auslassungen ein Halbseiter unter der extra für mich installierten Rubrik „Mit Freundesaugen“ eingeräumt worden. Vielleicht hat es manchen gerührt. Etwa so, wie wenn uns ein Kasache seine Empfindungen, auf den Müggelbergen stehend und ins märkische Land schauend, darlegen würde. „Ich hoffe, daß mir meine Farbfotos helfen, das in Berlin glaubhaft zu machen. Berjosowyje kolki, die Birkenwäldchen! Keines Gärtners Hand hätte die lichten Stämme so gruppieren können, wie es der Zufall vermocht hat. Ich habe immer wieder auf den Auslöser der Kamera gedrückt. Und war mir doch niemals sicher, ist das nun die schönste Ansicht?“ Diese schwärmerische Auslassung mochte einem kasachstanischen Insider genügen. Für deutsche Leser muß ich weiter ausholen: Diese Baumgruppen – berjosowyje kolki genannt – prägen die Grenzlandschaft zwischen Kasachstan und Sibirien. Wahrscheinlich wehten da irgendwann einmal Birkensamen in die Steppe, sie wurzelten, zeitigten Samen, die dicht beim Mutterstamm niederfielen, aufgingen, usw. So entstanden nahezu kreisrunde undurchdringliche Wäldchen, umgeben von trister Steppe – natürliche Monokulturen der mittelasiatischen Daseinsform von Benda, wie der Birkenbaum latino-botanisch bezeichnet wird. Generationen dieser schlanken Gewächse kämpfen dort seither auf engstem Raum miteinander um Licht und Überleben. Ewiges Werden und Vergehen. Aus der Vogelperspektive mag das aussehen wie jene kreisrunden Schimmelpilzwucherungen, die sich zuweilen auf verderbenden Lebensmitteln bilden. […]

>> Die Fortsetzung dieses Buchauszugs lesen Sie in den nachfolgenden Ausgaben

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