Nicht nur der Todestag der Grenzgängerin und deutsch-jüdischen Exilantin Hannah Arendt legt es nahe, ihr Lebenswerk zu würdigen. Eine Rückschau auf ihr Gedankengut scheint bedeutungsvoller, als sie es sich gewünscht hätte – dies gerade in den Staaten der „Philosophenherrscher” Zentralasiens.

Vor 30 Jahren, am 4. Dezember 1975, verstarb die im Jahre 1906 bei Hannover geborene und in der heutigen russischen Exklave und Kant-Stadt Kaliningrad aufgewachsene Hannah Arendt. Weltweite Anerkennung erlangte die nonkonformistische Deutsch-Amerikanerin jüdischer Abstammung, politische Theoretikerin und Philosophin mit Schriften zu Judentum, Zionismus und Totalitarismus. Vor dem mörderischen Antisemitismus Nazi-Deutschlands floh sie 1933. Über Paris gelangte sie in die USA. Politik beruht für sie einfach „auf der Tatsache der Pluralität der Menschen”. Der Sinn von Politik ist nach Arendt Freiheit.

Gemeinsames Handeln: Allzeit Spontanität

Eines ihrer denkwürdigsten Werke „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” legte Hannah Arendt schon in den 1950ern vor. Darin zeichnet sie den Aufstieg totalitärer Regimes aus den Ruinen gesellschaftlich desintegrierter Nationalstaaten im Okzident nach. Kennzeichnend für ihren Totalitarismusbegriff ist die Zentralisation der Regierungsgewalt und das Streben, jede Individualität durch Ideologie und Repression zu negieren.

Arendt folgend, sind dies strukturelle Parallelen Nazi-Deutschlands und der totalitären Sowjetunion, deren Entstehen jeweils eng gekoppelt mit ihren charismatischen Führungsfiguren Hitler und Stalin war. Gemeinsam war den beiden grausamen Herren ebenso ihr Personenkult und die Ambition, oberster Herr über Staat und Gesetz zu sein. Kurz gesprochen und mit dem Titel ihres Hauptwerkes „Vita activa oder vom tätigen Leben”: Gesellschaft und Politik sollten bestenfalls spontane Akte gemeinsamen Handelns sein. Mit den 1963 erschienenen Notizen zum Gerichtsprozess gegen einen Nazi-Schergen „Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht über die Banalität des Bösen” zeigte Arendt, dass das Grauen nicht teuflisch in seiner Erscheinung sein muss, ja es kann in banaler Form bürokratischer Erfüllungsgehilfen daherkommen. Soweit es überhaupt möglich ist, kann man die zwei Essaysammelbände „Zwischen Vergangenheit und Zukunft” und „In der Gegenwart”, beide mit dem Untertitel „Übungen im politischen Denken”, als Klammern um die gesellschaftspolitischen Ansichten Arendts interpretieren.

Es sind argumentativ und historisch unterlegte Ansichten, die verdeutlichen, dass auch die angeblich besonders weisen und tugendhaften Staatsmänner, die der griechische Denker Platon als „Philosophenherrscher” bezeichnete, mit ihren Heilsbegriffen im Okzident keine Lösungen für Probleme lieferten. Arendts zweibändige Übungen im politischen Denken sind ein augenfälliges Plädoyer gegen übersteigertes Aufbegehren gegen die Menschlichkeit. Sie sind auch ein Plädoyer gegen überspitzten Rationalismus in Form des modernen Denkens in Prozessen. Sie richten sich auch gegen die menschliche Anmaßung, Gesellschaften wären exakt planbar und bestenfalls könne gar noch die Natur unterworfen werden. Solches Denken ist dieser Tage Faktizität im Handeln der politischen Herrscher Zentralasiens dieser Tage.

Zentralasien, zwischen Orient und Okzident und im arendtschen Duktus eine spezielle Region zwischen Vergangenheit und Zukunft, befindet sich seit dem Fall des Sowjetreiches in einer tief greifenden Transformation. Einer Transformation, die sich allerdings im nichtarendtschen Sinne präsentiert. Die Mehrheit der zentralasiatischen Länder wird quasi von selbsternannten „Philosophenherrschern” regiert. Sie schicken ihre Länder per Dekret und mit selbstverfassten Büchern gen Zukunft. Probleme scheinen nur mit ihnen selbst, ihrer Bürokratie der Banalität und ihren Machtsystemen lösbar. Traditionen und Kulturprägungen werden selektiv gefördert und letztendlich erscheint alles plan- und gestaltbar. Gestaltbar im Sinne der vom „Philosophenherrscher” gedachten Prozesse, der über seine Präsidialrepublik autokratisch herrscht, beispielsweise sich seiner Platon- und Aristoteles-Kenntnisse rühmt, oder auch en passant Max-Weber-Interpretationen zum Besten gibt und selbst philosophisch angehauchte Werke wie „Das kritische Jahrzehnt” verfasst. Darin oder auch in der staatlichen Presse fällt zwar der Name Arendt, doch über den wirklichen Kern ihres Denkens wird wenig gesprochen. Ganz zu schweigen, ihm im Handeln gerecht zu werden.

Um auch in Zukunft Handeln im Sinne der arendtschen Gedanken zu fördern, wird seit 1994 in Bremen der Hannah-Arendt-Preis vergeben. Damit soll ihre Fundamentalprämisse, dass „der Sinn von Politik Freiheit ist” weitergetragen werden – nicht nur im Okzident. Preisträger waren unter anderem die ungarische Philosophin Agnes Heller oder der Kanadier Michael Ignatieff, Sohn eines russischen Emigranten, der sich seit Jahren für die Idee der Menschenrechte engagiert. Prämiert wurde in Bremen ebenso Jelena Georgijewna Bonner, die im heutigen Turkmenistan geborene russische Dissidentin, Politikerin und Ehefrau des verstorbenen Andrej Sacharow. Man darf gespannt sein, wer dieses Jahr in den Augen der Jury des Erbes von Hannah Arendts für würdig befunden wird.

Zentralasien: Eine Region der „Philosophenherrscher“

Zentralasiatische Herrscher, auch ein am Todestag Arendts Wiedergewählter, der sich zwischen Okzident und Orient gern als leuchtendes Vorbild präsentiert, dürften im Moment keine Chance auf eine Auszeichnung in Bremen haben. Der usbekische Präsident Islam Karimow ähnelt in Wort, Schrift und Handeln ebenso einem „Philosophenherrscher”. In Turkmenistan ist der geistig-moralische Leitfaden aus der Feder des Präsidenten Saparmurat Nijasow Pfichtlektüre. Hier schwebt der Herrscher gar noch über der Philosophie. Er ist offiziell einfach nur noch Turkmenbaschi, quasi göttlicher Vater der Turkmenen. Er hat Vorlieben für geflochtene Haare bei Frauen. Bärte und lange Haare sollen Männer nicht haben. All dies wurde in Gesetze gegossen. Titel seiner Literatur sind: „Buch der Seele“, oder „Gesegnet sei das Volk der Turkmenen“.

09/12/05

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