Gestern startete die Berlinale. Das nahmen wir zum Anlass, um mit Anna Vilgelmi auf den neuen Film Emir Baigazins einzugehen, der in der Sektion Panorama läuft, sowie auch auf andere gemeinsame Projekte und die Filmbranche in Deutschland und Kasachstan. Die junge Filmproduzentin, die zwischen mehreren Kulturen, in der Filmwelt balanciert, steht in einer besonders engen Bindung zu Kasachstan.

Russlanddeutsche bei der Berlinale? Dafür gibt es in dem alljährlichen Berlinale-Pressedossier mit seinen interessanten Statistiken selbstverständlich keine Rubrik. Die Beteiligten sind einfach deutsche Filmschaffende. Und ich kenne doch mindestens eine solche Festival-Teilnehmerin (die mit Sicherheit auch nicht die einzige bei dem gigantischen Event ist). Die russlanddeutsche Anna Vilgelmi, verwendet diese Bezeichnung nie für sich selbst, sie bevorzugt zu sagen, dass sie in zwei Kulturkreisen aufgewachsen ist – in Russland geboren, in Deutschland lebend. Die vielerwähnte „Brückenfunktion“ sieht sie deutlich in ihrer Person ausgeprägt, als eine Art Mediatorin zwischen Kulturen, was ihr in ihrem Beruf einen essentiellen Vorteil zu bringen scheint.

Anna beim Internationalen Filmfestival von Locarno, Schweiz

Sie kommt soeben von einem fünftägigen Rotterdam-Trip mit wenig Schlaf und schrägen Träumen von Verkaufsagenten und Filmverleihern. Anna Vilgelmi hat das neueste Projekt vom kasachischen Regisseur Emir Baigazin „Over The City…“ auf dem Filmmarkt des Festivals in Rotterdam vorgestellt und mit potenziellen Produktionspartnern Gespräche geführt. Meist ist der Produzent hinter den Kulissen, wenn der Film herauskommt und Premiere feiert, dabei bedeutet so eine Filmproduktion einen mehrere Jahre andauernden Arbeitsprozess, ehe aus einem Skript das Kino auf der Leinwand wird. Im folgenden Interview bekommen wir einen spannenden Einblick in einige Arbeitsbereiche einer Filmproduzentin.

Du bist soeben zurück vom IFFR „Cinemart“, wie war es in Rotterdam?
Alles ist hervorragend gelaufen, ehrlich gesagt. Wir haben das neue Filmprojekt dem Markt präsentiert. Jeder kennt Emirs Debütfilm „Harmony Lessons“, man weiß, dass wir dabei sind, „The Wounded Angel“ herauszubringen und dass es zu einer thematischen Filmtrilogie gehört. „Over The City…“ ist ein Melodrama und steht in einem etwas anderen Kontext als die beiden anderen Filme, deshalb war ich sehr auf die Reaktion gespannt. Alle waren sehr interessiert, und wir hatten überdurchschnittlich viele Interessenten – warum auch immer scheinen wir auf all diesen Filmmärkten ein Magnet zu sein.

Kann ich mir das jetzt so vorstellen, dass ihr einen Fächer voller interessierter potentieller Partner habt?
Ja, genau so. So war das auch einst in Berlin, bei unserem vorangehenden Projekt. Wir sind natürlich auf der Suche nach einem kompetenten und zuverlässigen Partner. Ich schaue aber auch immer darauf, wie gut man sich menschlich versteht. Diese Projekte bedeuten meist eine gegenseitige Abhängigkeit über drei oder mehr Jahre. Man muss auch immer den Kasachstan-Faktor in Betracht ziehen, dafür ist eine gewisse Flexibilität notwendig. Denn es gibt meist irgendwelche unvorhergesehene Momente mit denen man rechnen und auch umgehen muss (lacht). Darauf muss man seine Partner einstimmen und aus Erfahrung kann ich sagen, dass sich dafür eher die jüngere Generation eignet. Ich achte darauf, dass es angenehme Menschen sind, damit es eine schöne und auch heitere Zusammenarbeit gibt.
Aber auch die Reaktion nach Abschluss von einem Filmmarkt ist wichtig – reden kann man viel. Ich renne niemandem hinterher, ich arbeite ausschließlich mit den Leuten, die auf mich zukommen. Heute z.B., einen Tag nach Ende des Filmmarkts, bekomme ich bereits Zuschriften, und das sind wohlmöglich auch die Leute, mit denen wir am nächsten Projekt arbeiten werden.

Sind das bei jedem Projekt neue Leute, habt ihr also nicht bereits erprobte Partner?
„The Wounded Angel“ haben wir in einer deutsch-französischen Koproduktion gemacht. Mit unseren deutschen Partnern (augenschein FILMPRODUKTION, Köln) bin ich sehr glücklich und vor allem mit Köln; im Vergleich dazu fühlt sich Berlin überbewertet an. In Köln sind wir regelrechte Superstars (lacht), dort ist der Filmmarkt übersichtlicher, und man kennt und versteht sich besser.

Nach dem regionalen Fördersystem in Deutschland gibt es bei der Filmstiftung NRW ja auch sicherlich anteilig größere Budgets als beim „medienboard Berlin Brandenburg“?
Es gibt wahrscheinlich weniger Konkurrenz.

Und weniger Exotik.
Ja, wahrscheinlich auch das. Aber man muss sich das vor Augen halten – in Berlin sind über 600 Filmproduktionsfirmen registriert! Ich habe keine Idee, wie sie alle überleben.

Übersättigter Markt…
Eindeutig. Jedenfalls sind wir mit den deutschen Partnern sehr zufrieden und haben auf dem Markt einen neuen, französischen, gesucht. Da habe ich ein Gefühl wir brauchen einen neuen Anfang. Zwei Eigenschaften, auf die ich Wert lege, sind Ambition und Transparenz – und danach suche ich. Eine der Filmproduktionen scheint vielversprechend und ambitioniert und hat sich auch bereits gemeldet.

Wo sitzt die Firma?
In Paris, wie die meisten. In Frankreich ist das Filmfördersystem zentralisierter, es gibt prinzipiell nur CNC, während es in Deutschland ein gleichgewichtiges föderales System mit regionaler Filmförderung gibt.

Wie ist im Vergleich dazu das kasachische Filmfördersystem? Läuft alles auch nur über „Kazakhfilm“?
In Kasachstan ist es schon vorrangig „Kazakhfilm“. Wir werden mit Mitteln des Kulturministeriums unterstützt. Es gibt einige kleinere Fördermöglichkeiten, wie z.B. die „Stiftung des Ersten Präsidenten“, die junge Filmemacher ein wenig unterstützt. Es gibt viele Diskussionen zur Neustrukturierung der Filmförderung, aber bisher noch keine konkreten institutionellen Schritte, von denen ich wüsste. Alles formiert sich noch.

Alles scheint zentralisiert. Welches Filmfördersystem eignet sich deiner Meinung nach? Gibt es eine Chance für ein föderales System in Kasachstan?
Das denke ich nicht. Es gibt ganz objektive Faktoren dagegen. Die Bevölkerungsstruktur in Kasachstan ist vollkommen ungleichmäßig auf die Regionen verteilt, und diese Form ist nicht die günstigste in diesem Land. Aber es gibt durchaus progressive Tendenzen zur Verteilung der Fördergelder, die zumindest in Theorie diskutiert werden.

Arbeitest Du noch bei „Kazakhfilm“?
Nein, mein Vertrag ist gerade ausgelaufen, nach der Beendigung des Projekts „The Wounded Angel“. Das neue Projekt wird mit „Emir Baigazin Production“ realisiert.
Natürlich wünscht man sich klarere Strukturen, denn abgesehen von Emir gibt es sehr viele talentierte junge Filmleute. Manche von denen geben auf –nach Konfrontationen mit dem autoritären System. Andererseits gibt es in kaum einem europäischen Land die Möglichkeit, beinahe den kompletten Film aus einem „Topf“ zu realisieren, wie es bei „Kazakhfilm“ möglich ist, es sei denn man bekommt die Zustimmung. Aber eine zugänglichere und transparentere Struktur würde natürlich viele weitere Vorteile mit sich bringen. Hierbei sprechen wir über Möglichkeiten für das Autorenkino, denn selbstverständlich ist die Filmindustrie auf Profit orientiert. Das Segment des Autorenkinos war für Kasachstan schon immer eine Art Markenzeichen. Und ich habe das in meinen Diskussionen in Kasachstan auch immer wieder betont, dass das Autorenkino nirgendwo auf der Welt gewinnbringend ist und immer Subventionen benötigt. Man muss es als eine Art Talent-Laboratorium für Filmemacher betrachten, und wenn es das nicht gibt, wird es gar kein Kino in Kasachstan geben. Dort werden neue Ideen und Filmsprachen geboren, die dann das kommerzielle Kino inspirieren.

Wir wissen ja, dass die Entscheidungsträger hierzu in Kasachstan meist eine Beamtenfunktion erfüllen und nicht unbedingt aus dem Filmbereich kommen oder ein Ausbildung in dieser Richtung haben. Inwieweit ist es also verständlich für die da oben?
Man kann auch ihren Standpunkt verstehen, der das Ziel verfolgt, eine Filmindustrie in diesem Land aufzubauen in einem kapitalistischen System. Man orientiert sich gern u. a. an den USA. Aber die einzigartige und wertvolle Besonderheit des heutigen Filmsystems in Kasachstan – die Möglichkeit fürs Autorenkino, durch den Staat unterstützt zu werden – darf dadurch nicht verloren gehen. Deshalb werde ich nie müde, mich bei der Rolle des Autorenkinos zu wiederholen in all meinen professionellen Gesprächen in Kasachstan. Vielleicht machen das auch andere, und es kommt an.

In Rotterdam lief doch gerade ein sehr idealistischer Autorenfilm im Wettbewerb und gewann auch den NETPAC Preis (Network for the Promotion of Asian Cinema).
Ja, „The Plague at the Karatas Village“ („Tchuma w aule Karatas“) von Adilchan Erzhanow. Ich habe ihn leider nicht sehen können, aber ich weiß, dass er mit einem minimalen Budget (gefördert von der Soros Stiftung) gedreht wurde (ca. 6000 Dollar) und natürlich nur dank engagierter Menschen entstehen konnte. Die Reaktionen auf den Film schienen sehr interessiert und positiv, Adilchan schien sichtbar glücklich. Die Arbeit mit einem Regisseur hängt von den persönlichen Zielen des Filmemachers ab. Es ist ein großer Unterschied ob jemand erfolgreich und bekannt werden will oder ob einer idealistische und politische Ziele und Themen verfolgt. Nach dem sogenannten Manifest zum „Partisankino“, zu dem sich auch Adilchan bekennt, kann es keine Kompromisse geben. Sie sehen das Kino als eine Form des politischen Protests – so eine Position ist ebenso respektabel.

Es ist schon kurios, dass man in seinem Kampf mit dem nationalen System auf einmal positive Schlagzeilen in allen Medien Kasachstans landen kann…
Das ist wahrscheinlich gut so. Sie bekommen so eine Stimme.

Also das neue Projekt „Over The City“ soll also vorrangig nicht mit kasachischen Geldern erfolgen?
Wenn alles gut geht, haben wir von der kasachischen Seite private Investoren. Es wird nicht so sein wie beim „The Wounded Angel“, wo zum grössten Teil Kazakhfilm-Gelder eingeflossen sind. Jetzt zähle ich mehr auf europäische Fördergelder, und die Zeichen stehen gut.

Die Berlinale steht vor der Tür. Wie ist die Stimmung?
„The Wounded Angel“ ist ein totales Berlinale-Projekt und hat sofort nach dem Berlinale-Erfolg von „Harmony Lessons“ angefangen. Der Film erzählt vier Novellen, die auf den ersten Blick nicht zusammenhängen. Es geht in jeder um einen jugendlichen Idealismus und dessen fatale Entscheidungen. Emir schrieb das Skript und nahm dann damit an dem Berlinale Residency Programm teil um am Projekt zusammen mit Experten zu arbeiten. Wir sind glücklich, wieder in Berlin zu sein. Unsere Premiere (am 16.2.) ist im Offiziellen Programm (Sektion Panorama Special), und wir sind ausgesprochen neugierig auf die Rezeption des zweiten Films.
Die Stimmung ansonsten: Emir hat bereits ein weiteres Projekt geschrieben, und wir sind dabei, dieses Jahr zu planen. Ich bin froh, dass wir bereits ein anderes Filmprojekt in Rotterdam auf den Markt gebracht haben. Es ist gut, neue Ideen im Gepäck zu haben. Vor allem unterscheidet sich „Over The City…“ sehr von den bisherigen, es ist ein Melodrama, ein Treffen zwischen zwei Menschen. Emir arbeitet mit Metaphern und indirekten Bildern, außerdem spielt das Ergründen bei ihm eine große Rolle – die Filmstudie. Als Drittes ist die Visualität und Fotografie sehr ausschlaggebend für ihn. Das Melodrama zwischen zwei Menschen ist ein neues Genre und Thema für Emir, aber die drei soeben genannten Strukturen wendet er auch hier an, so wie bei allen anderen Projekten.

Und die Berlinale-Premiere fließt ebenso in dieses Format ein. Ist es nicht eine Art Trilogie, von der er sprach?
In „Harmony Lessons“ (2013) und „The Wounded Angel“ (2016) geht es an der Oberfläche um Heranwachsende in schwierigen Situationen. Hintergründig geht es natürlich um tiefere allgemein-menschliche Konflikte, die anhand von Heranwachsenden einfach besonders gut sichtbar gemacht werden können. Es ist auch bereits der dritte Teil der Trilogie in Arbeit. Aber das in Rotterdam vorgestellte Projekt gehört nicht zu der Trilogie, ist autark und der Start einer neuen Trilogiereihe zum Thema Stadt. Zwischendrin wird eine neue Seite aufgeschlagen.

Es geht da auch um Almaty, wie ich gehört habe?
Ja, Almaty mit seinen über Nacht mietbaren Wohnungen, jungen Leuten, romantischen Beziehungen, der berühmten Seilbahn und den Bergen von Koktöbe.

Hat „Harmony Lessons“ das kasachische Kino auf den Rang des so genannten Weltkinos gebracht?
Es gab auch in den 90ern starke kasachische Autorenfilme wie die von Darezhan Omirbaev, die in Cannes liefen und Preise in Locarno gewannen. Aber der Erfolg von Harmony Lessons ist unanzweifelbar – es handelt sich hier eindeutig um eine neue Generation des kasachischen Films. Meines Erachtens liegt das an der Gesamtheit aller Faktoren: dem Talent und der Ambition des Regisseuren, aber auch an der niveauvollen Produktion. Filme von Emir sind sehr reif und ruhen auf den Säulen der europäischen Filmgeschichte. Somit sieht das Publikum in der universellen visuellen Filmsprache nicht nur eine rein kasachische Geschichte.

Was steht nach der Berlinale an und welche Projekte beschäftigen dich noch, neben der Zusammenarbeit mit Emir?
Seit einiger Zeit arbeite ich mit einer sehr vielversprechenden Dokumentarfilmemacherin Katerina Suvorova (Anm.d.R.: Berlinale Talents Alumna), die übrigens auch aus Almaty kommt. Nach ihrem ersten Langfilm „SeaTomorrow“, der neulich abgeschlossen wurde und sich um das Leben nach der ökologischen Katastrophe des Aralsees dreht, bereitet sie das neue Projekt vor: „About Life of Planets“. Der Film erzählt die Geschichte einer Gruppe von Amateur-Astronomen, die aus ihrer eigenen Kraft und Mitteln das verlassene Observatorium in den Bergen von Almaty wieder auf die Beine stellen. Wie auch in ihrem ersten Film beschäftigt sich Katja mit dem Thema Träume und deren Realisierung und verfügt außerdem über eine einzigartige, unbefangene Erzählsprache, die mir sehr sympathisch ist. Das Projekt stellen wir im März auf dem Filmmarkt in Hongkong der Industrie vor.

Vielen Dank für das spannende Gespräch, Anna!

Mehr zur Privatperson Anna Vilgelmi sowie ihrer Familiengeschichte lesen Sie in einer der kommenden Ausgaben.

Julia Boxler

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