Ich wohne gern in meinem kleinen Ort, erwische mich aber dabei, wie ich das Städtchen vor anderen zugleich entschuldige und verteidige. Weil es hier ein wenig spießig ausschaut und zugeht. Weil man hier gut leben, aber wenig erleben kann. Doch seit vorhin stellt sich das Bild anders dar.

Ich bin auf die Kirche, in der ich Orgel übe, zugesteuert, da kam eine chice dunkelhäutige Frau des Weges, die so gar nicht nach Lövenich aussah, eine Frau von Welt. Wir lächelten uns zu, ich sagte Hallo, sie blieb stehen. Sie dachte, ich wäre Kirchenvertreterin und Musikerin, so mit dem Schlüssel in der Hand und den Noten unterm Arm. Wir kamen ins Gespräch. Ich gab sofort zu, dass ich weit davon entfernt bin, einen eigenen Schlüssel zu haben und noch entfernter, Musikerin zu sein. Im Gegenteil, ich sei eine zurzeit ziemlich frustrierte Orgelschülerin, die an ihrem Gestümper verzweifele. Eben erst hätte ich mich von meinem Orgellehrer aufbauen lassen. Sie verstand, warf einen kurzen Blick in meine Noten und nickte vielsagend, sie kenne sich mit Musik aus.

Au fein! Da mein Orgellehrer sagte, dass es ihn selbst motiviere, mit anderen zusammen zu musizieren als immer nur mit sich selbst konfrontiert zu sein, dachte ich: Mensch, die schickt der Himmel, meine künftige Mitmusikantin für unser Duo „Taste und …“ Ja, welche Musik macht sie überhaupt? Sie singt, sagt sie. Und schon stellte ich mir vor, wie wir beide uns holperig aber glücklich, weil gemeinsam, durch die Noten kämpfen. Jedoch, da sie mit amerikanischem Akzent sprach, unterstellte ich mit meinem detektivischen Gespür, dass sie sicher nicht aus Lövenich kommt, so dass unsere gemeinsame Stümperkarriere wohl doch nicht starten kann. Wo sie denn herkomme, fragte ich. Und wollte sie mit meiner Gastgebernatur willkommen heißen in meinem Ort. Sie wohne hier gleich um die Ecke. Bitte? So eine galante Frau an diesem Ort? Oh je, die Ärmste, dachte ich. Ob sie sich hier wohl fühle, wollte ich wissen und überlegte im vorauseilenden Gehorsam, wie ich ihr das Leben hier erträglicher machen könnte. Ich empfahl ihr den Chor und die Auftritte meines Orgellehrers. Die kenne sie leider nicht, sagte sie, aber sowieso liiiebe sie es, hier zu wohnen, sagte sie strahlend, pudelwohl fühle sie sich hier! Echt? Ich unterstellte, dass sie noch nicht so lange hier wohnt. Oh doch, seit einigen Jahren. Huch und Oh je! Und ich will mich hier als ortskundige Gastgeberin aufspielen, die weiß, wo der Hase lang läuft! Es wurde noch kurioser.

Im weiteren Gesprächsverlauf stellte sich heraus, dass sie in New York City gelebt hat. Donnerwetter! Dass jemand aus New York Lövenich schöner findet als New York, macht mich echt sprachlos. Sie komme immer sonntags in die Messe, aber nur, wenn sie es bis 3.00 Uhr ins Bett geschafft habe. Oh, eine Partymaus! denke ich erfreut und sehe uns schon gemeinsam in meiner Küchendisco auf dem Tisch tanzen. Meist komme sie spät von ihren Konzerten zurück. „Ihre Konzerte“? Meine Hoffnung, dass sie gemeinsam mit mir Musik machen oder auf dem Tisch tanzen will, schwindet jäh. Später, als ich ihre Homepage studiere, begreife ich, was da für eine Berühmtheit durch unser Dörfchen spaziert. Sie legt eine lange Latte beeindruckender Erfolge hin – Wow! Ich habe jetzt viel zu tun: Ich muss dringend über meine Wahrnehmung und Vorurteile nachdenken, mein Welt-, Orts– und Selbstbild ändern.

Julia Siebert

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