Zusammenleben birgt immer Herausforderungen. Die Länder Zentralasiens gehen diese auf andere Weise an, als mitteleuropäische. Ein DAAD-Seminar in Bischkek befasst sich mit den theoretischen Begriffen von „Volk“ bis „Nation“ und initiiert Interviewsituationen zwischen den Ethnien. Kann das zu Verständigung führen? Unsere Autorin Inés Noé sprach mit einer Studentin aus Kirgisistan über das Seminar und die Situation in ihrem Land.

Momentan steht auch die Europäische Union vor Fragen nach einem möglichen Miteinander in Gegenwart und Zukunft. Deutschland ist ein erfahrenes Einwanderungsland, doch diese Fragen scheinen heute aktueller denn je zu sein. Die politischen Kampagnen vor den Wahlen sind geprägt von Angeboten, diese offenen Fragen zu beantworten. Einen Lösungsansatz bietet auch Thomas de Maizière, Innenminister der CDU. In seinem kürzlich erschienenen Diskussionsbeitrag schreibt er im Wir von den Werten, die er für die Bundesrepublik Deutschland in diesen Zeiten vorsieht. Dabei knüpft er an den Begriff der „Leitkultur“ an, die präge und prägen solle. In diesem Rahmen spricht de Maizière von „Minderheitenschutz“ und der „Akzeptanz“ gegenüber anderen Lebensformen sowie der in diesem Zusammenhang geforderten „Integration“. Doch diese Begriffe spiegeln eindeutig ein Konzept der strikten Einseitigkeit wider. Die Stellungnahme des Innenministers hat deshalb nichts mit Miteinander oder Gemeinschaft zu tun.

Zentralasien ist vielleicht ein Beispiel für das Gegenteil einer solchen Einseitigkeit. Aufgrund der Geschichte leben hier schon lange viele verschiedene Ethnien, Religionen und Nationalitäten mit- und nebeneinander. Einige der jungen Republiken legen betont Wert auf die Völkerfreundschaft. Herausforderungen einer multiethnischen Gesellschaft werden hier auf andere Weise behandelt, als in der Europäischen Union. Doch wie wird hier mit Schwierigkeiten umgegangen? Wie lebt es sich in dem zentralasiatischen Land Kirgisistan?
Ein vom DAAD initiiertes Seminar war diesem Thema gewidmet. 15 Studierende aus Kirgisistan trafen sich für eine Woche in der Kirgisischen Staatlichen Technischen Universität Bischkek, um sich gemeinsam im theoretischen und praktischen Rahmen den Herausforderungen ihres Vielvölkerstaates zu nähern: „Das Zusammenleben von Kirgisen, Deutschen und anderen Ethnien in Kirgisistan“

Als theoretischen Input haben die Teilnehmenden Grundbegriffe eines Vielvölkerstaates vermittelt bekommen, sowie eine Anleitung zur Interviewführung. Der Fokus des Seminars lag auf der praktischen Anwendung der theoretischen Inhalte, bei welcher die Studierenden selbst anthropologisch Arbeiten sollten: Es wurden Interviews geführt und ausgewertet. Eine Exkursion in das deutsche Dorf Rot-Front sowie eine Stadtführung durch Bischkek waren zusätzlich organisiert. Das Programm sollte zu einem besseren Verständnis der verschiedenen Ethnien Kirgisistans untereinander führen.

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Eine Teilnehmende des DAAD-Seminars berichtet von ihren Erfahrungen rund um die Thematik „Ethnische Minderheiten“ in Kirgisistan und erzählt, was das Seminar mit ihr gemacht hat.
Kseniia spricht geradezu perfektes Deutsch. Sie spricht ordentlicher, klarer als die meisten deutschen Muttersprachler, denn sie wählt jedes Wort mit Bedacht. Sie hat einen großen Wortschatz, eine korrekte Aussprache, und sie korrigiert sich selbst. Nur manchmal verrät eine verdrehte Satzstellung ihre russische Muttersprache. Woher kommt die Motivation, eine Fremdsprache so gut zu beherrschen? Kseniia ist Anfang zwanzig und hat erst in der Universität begonnen, Deutsch zu lernen. Als Germanistikstudentin hat sie ein Auslandssemester in Berlin verbracht, mehr nicht. In Berlin kann ein russischsprachiger Gast auch über Monate ohne Deutsch auskommen, denn Russisch ist fast überall, in manchen Bezirken sogar an jeder Straßenecke zu hören. Aber nun sitzt sie hier in Kirgisistan und spricht mit mir in meiner Muttersprache.

Kseniia vor der Dolmetscherkabine des Gebetshauses in Rot-Front. | Bild: DAAD

Kseniia lebt in einem deutschen Dorf in der Nähe von Bischkek, in welchem sie auch geboren und aufgewachsen ist. Sie und ihre Familie bezeichnen sich als Russen. Obwohl das Dorf deutschen Ursprungs ist, hat sie nie mit Deutschen zu tun gehabt, da zumindest dort keine mehr leben. „Vor der Auswanderungswelle in den 80er/90er Jahren gab es ungefähr 180.000 Deutsche hier in Kirgisistan, heute vielleicht 5-8.000.“ Sie wohnt in einem deutschen Haus, doch die deutsche Architektur, die sich sehr von den Unterkünften der ursprünglich nomadischen Völker unterscheide, sei alles, was hier noch von der Geschichte des Dorfes übrig geblieben sei.

Mehr Feiertage für alle?

Die Straße, in der Kseniia lebt, steht eigentlich repräsentativ für die Vielfalt Kirgisistans: „Ich habe viele verschiedene Nachbarn: Einige Familien sind Kirgisen, zwei Familien sind Dunganen, andere sind Usbeken. Und wir sind eine der wenigen russischen Familien, die hier leben. Wenn wir, zum Beispiel, Ostern feiern, dann machen wir kleine Geschenke für unsere Gäste. Wenn bei unseren Nachbarn Nooruz oder andere Feste anstehen, dann bringen sie uns etwas rüber – so feiern wir alle Feiertage“, erzählt sie vom Zusammenleben – und das klingt eigentlich sehr harmonisch. Es klingt nach respektvollem Nebeneinander, nach gegenseitigem Interesse und Verständnis.

Mischen oder Nichtmischen?

Doch so freundlich die Nachbarschaft auch sein mag – die Zäune zwischen den Grundstücken bleiben bestehen. Heiraten zwischen den Ethnien ist noch immer ein heikles Thema. „Das hängt natürlich von der Familie ab und davon, was die Eltern denken, besonders in den streng gläubigen Familien“, meint Kseniia. Zwar löse die Großstadt Bischkek in gewissem Maße traditionelle Konstellationen auf, doch was in der Großstadt geschieht, ist bekanntermaßen nicht repräsentativ für den Rest des Landes, nirgendwo. „Ich persönlich unterscheide nicht nach der Hautfarbe eines Menschen, denn ich finde, dass alle die gleichen Rechte haben. Auf diese Weise könnten wir alle miteinander leben. Viele Menschen hier denken in letzter Zeit auch so.“ Kseniia hat einige Bekannte und Freunde, die geheiratet haben, obwohl sie nicht der gleichen Ethnie angehören. „Im Prinzip sind Usbeken, Kirgisen, Kasachen, Tadschiken und Türken aus einer Familie. Heute ist das alles irgendwie zersplittert.“

Gehen oder bleiben?

Auch für Kseniias Familie ist das Leben in Kirgisistan nicht immer einfach. Nach einem ethnischen Konflikt zwischen Kirgisen und Usbeken vor ein paar Jahren, wurde die Situation im Land unsicher, und auch viele Russen sind ausgewandert – aus Angst. So, wie es kaum mehr Deutsche gibt, vertreten auch immer weniger Menschen die russische Minderheit in Kirgisistan. „Meine Familie wollte eigentlich auch auswandern. Aber mein Vater war in Russland und wollte dort einfach mal reinschnuppern – und dann sagte er: Nein wir bleiben hier – die Menschen hier sind gastfreundlicher.“ Ihre Familie ist geblieben. Doch die Möglichkeit einer Zukunft woanders besteht für Kseniia noch immer. „Vielleicht in der Zukunft, wenn ich eine eigene Familie gründe und wir uns entscheiden, auszuwandern, dann wäre ich nicht dagegen.“ Sie ist der Meinung, jeder Mensch habe das Recht, zu leben, wo er wolle. Russisch, Englisch und Deutsch spricht die junge Frau fließend. Mit diesen Sprachen eröffnen sich ihr viele Möglichkeiten. Quasi die halbe Welt. Ob auch das Gefühl dieser Unsicherheit zu Perfektion im Sprachenlernen führt?

Theorie und Praxis

Das vom Deutschen Akademischen Austauschdienst realisierte Seminar über das Zusammenleben verschiedener Ethnien in Kirgisistan sollte die Teilnehmenden zunächst inhaltlich in für die Forschung relevante Termini einführen. Die Begriffe „Ethnie“, „Volk“ und „Nationalität“ wurden vertieft und voneinander unterschieden. „Ich wusste gar nicht, dass das verschiedene Begriffe sind“, sagt Kseniia im Nachhinein. Für sie persönlich sei es aber wichtig, Praktisches im Vornherein mit theoretischen Inhalten zu unterlegen.

Mit diesen neuen Gedanken zu Begriffen, welche die Teile ihrer Gesellschaft auf verschiedene Weise voneinander trennen, begaben sich die Teilnehmenden daraufhin in den praktischen Teil des Seminars: Sie sollten narrative Interviews durchführen. Diese anthropologische Arbeitsweise war für die meisten Teilnehmenden, die aus eher technischen Studiengängen kamen, neu. Interviews richtig zu führen ist aber nicht nur eine Methode der Forschung, sondern kann ebenso Inhalte aus subjektiver Sicht vermitteln, dem Umgang miteinander neue Perspektiven verleihen und damit den eigenen Horizont erweitern: Wer sich zuhört, versteht.

Sprechen und Zuhören fordert Fingerspitzengefühl

Bei den Interviews sollte es darum gehen, ein Gegenüber, das einer anderen Ethnie angehört, biographisch sprechen zu lassen. Es erfordere viel Sensibilität, Fragen zu stellen, die sich auf andere Ethnien beziehen, findet Kseniia. Learning by doing – Sprechen und Zuhören fordert viel Fingerspitzengefühl. Nach dem mindestens einstündigen Interview wurden die Gespräche dann einzeln von den Teilnehmenden des Seminars analysiert, „besonders die Stellen, in denen der Interviewte über andere Ethnien spricht.“ Kseniias Gesprächspartner habe von seiner Irritation als Kind erzählt, als er mit Kindern aus anderen Ethnien gespielt, aber nicht verstanden habe, weshalb manche seiner Freunde Feiertage hatten, als er selber keine hatte. Eine Möglichkeit des Perspektivenwechsels, ein Blick über den Zaun des Nachbarn. „Und das war das Wichtigste für mich“, fasst Kseniia die Eindrücke des Seminars zusammen. Fakten aus der Geschichte ließen sie das Jetzt begreifen. „Weil nicht immer versteht man, warum so viele Menschen sich hier in einem Land gesammelt haben.“

Besuch in Rot-Front

Exkursion der Seminargruppe in das deutsche Dorf Rot-Front. | Bild: DAAD

Oder eben wieder gegangen sind. Rot-Front ist eines der wenigen deutschen Dörfer Zentralasiens, in welchen noch Deutsch gesprochen wird. Zwar nur wenig, aber damit repräsentiert der Ort über Ländergrenzen hinaus die deutsche Minderheit in den zentralasiatischen Ländern. Der Besuch der Seminargruppe vertiefte das Wissen um die Geschichte der Deutschen in Kirgisistan. Das, was Kseniia von ihrem Besuch im deutschen Dorf in der Nähe von Bischkek erzählt, klingt nach Austausch: „Dort gibt es deutsche Häuser und ein deutsches Gebetshaus, welche in einem Stil gebaut sind, wie es ihn früher in Deutschland gab. Aber wie die Leute da Deutsch sprechen – da verstehe ich wirklich kaum ein Wort! Das ist ein Altdeutsch, das sich hier selbstständig entwickelt hat. Außerdem haben sich einige russische oder kirgisische Worte dazu gemischt oder wurden übertragen – es ist also eine gemischte Sprache! Für mich ist das ziemlich kompliziert.“

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Auch ein Besuch in dem Gebetshaus des Dorfes spricht mehr für ein Miteinander als für Abgrenzung: „In der Kirche gibt es eine Kabine für die Dolmetscher. Uns wurde erzählt, dass zwar alle Deutsch gesprochen haben, es aber auch Kirgisen gab, die ebenfalls ins Gebetshaus gingen. Und da diese kein Deutsch konnten, gab es Dolmetscher, die den Gottesdienst ins Kirgisische dolmetschten. Heutzutage ist es aber so: Es gibt einige Menschen, die Deutsch nicht mehr verstehen und die Russisch nicht – oder nicht mehr – können.“
Gegenwärtig findet der Gottesdienst auf Russisch statt, der zweiten Amtssprache Kirgisistans. Die Vorrichtung der Dolmetscher kann noch immer der Sprachmittlung dienen: Ins Russische, Kirgisische oder Deutsche.

„Zu Stein gewordenes Miteinander“

Bei einer weiteren Exkursion, einer Stadtführung durch Bischkek, seien die Teilnehmenden des Seminars auf die facettenreiche Architektur der Hauptstadt Kirgisistans aufmerksam gemacht worden. Dabei erfuhren sie, dass diese eigentlich in der Sowjetzeit gebauten Gebäude in Expertengruppen der Organisation Interhelpo geplant und ausgeführt worden sind.

Interviewübung: Teilnehmende interviewen einander. | Bild: DAAD

Die Experten kamen aus den 15 verschiedenen Sowjetländern. Die Häuser dieser sowjetischen Kooperative seien zu Stein gewordenes Miteinander, aus dem man lesen könne – wenn man nur den Blick dafür öffnet. Kseniia ist begeistert: „Ich bin zwar jeden Tag in Bischkek, aber vorher habe ich, ehrlich gesagt, kaum die Sachen wahrgenommen, auf die ich bei dieser Führung aufmerksam geworden bin.“

Der Besuch in Rot-Front und der Spaziergang durch Bischkek zeigen: Wer die Augen öffnet, kann das Miteinander sowie die Abgrenzung überall entdecken – nicht nur in der Architektur oder in der Sprache. Aber manchmal müssen die Augen mit Wissen geöffnet werden.

Konflikte während des Seminars

Doch einige Themen des Seminars führten auch zu Auseinandersetzungen, denn das Zusammenleben umfasst Schwierigkeiten, welche die eigene Familiengeschichte mit einbeziehen und jeden quasi aus anderer Perspektive betreffen. Plötzlich wird es persönlich. Zum Beispiel bei der Frage nach der Mischung der Ethnien: „Zu diesem Thema hatte natürlich jeder etwas zu sagen“, erzählt Kseniia. Zwar sei bei diesem interessanten, aber heiklen Thema wohl jeder letztendlich bei seiner Meinung geblieben, aber vielleicht habe auch jeder Teilnehmende sich wieder damit konfrontiert gesehen, dass es eben doch zwei Seiten der Münze gibt. „Ich denke, jeder soll für sich selbst entscheiden“, fasst sie zusammen.

Damit scheint das Seminar für Kseniia ein voller Erfolg gewesen zu sein. Die junge Frau möchte für sich selbst entscheiden, wo sie leben wird. Mit ihrem Deutsch liegt Deutschland nahe. Doch wird sie in der BRD auf eine Gesellschaft treffen, in der eine „Leitkultur“ von ihr erwartet, sich zu integrieren und anzupassen? Das DAAD-Seminar ist vielleicht der Beginn neuer Perspektiven gewesen, wenn es darum geht, sich gegenseitig über die Schulter zu sehen. Deutschland und Zentralasien. Die Minderheiten untereinander. Sogenannte Minderheiten und sogenannte „Leitkultur“.

Inés Noé

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