Eine schwarze Kappe verdeckt sein Gesicht, die Hose sitzt locker und passt farblich zu den silbernen Turnschuhen. Lässig hängt ein Rucksack an seiner Schulter, als er die Treppen zum Stadion in Medeo hinaufsteigt. Sein Äußeres verrät, dieser junge Mann ist nicht von hier. Und doch ist er mit Kasachstan verbunden, da es seine Geburtsstätte ist. Er ist auf der Suche nach der Geschichte seiner vergessenen Kindheit. Um sie wiederzufinden, unternahm Alexander Gerdt (30) mit seinem besten Freund einen Road Trip, der hier in Medeo endet. Doch beginnen wir die Geschichte von vorne…

Ein Blick zurück – 1986

 
Alex wurde am 23. September 1986 in Schu geboren, eine Stadt im Süden Kasachstans. Aufgewachsen ist er im Heimatdorf seines Vaters in Druschba (heute: Moyynkum / Мойынкум), das etwa 20 Kilometer südlich von Schu liegt. In Druschba lebten damals vorwiegend Deutsche, aber auch Aserbaidschaner, Armenier, Tschetschenen und Russen. Das Zusammenleben beschreiben Alex‘ Eltern als sehr angenehm. Es habe zwischen den Nationalitäten keine Probleme gegeben, daher auch der Name Druschba, das übersetzt Freundschaft heißt.
Nach Deutschland brach Alex mit seinen Eltern, seiner fünf Jahre älteren Schwester Natalia und seiner Oma im Sommer 1991 auf. Grund für die Auswanderung seien die besseren Bildungsmöglichkeiten bzw. Zukunftsaussichten gewesen, die sich die Eltern für Alex und Natalia versprachen. „Vor allem aber auch, weil die Rückkehr ins damalige wolgadeutsche Gebiet für uns Nachkommen nicht mehr möglich war.
Viele unserer Verwandten sind 1990 nach Deutschland übersiedelt“, erklärt Alex, „Mit dem Aufbruch verloren wir die Verbindung zu Kasachstan, da wir als deutschstämmige Familie, keinen Grund sahen, zurückzusehen.“
 
Ankunft in Deutschland – 1990
 
Alex (1.v.l.) und Patrick (4.v.l.) mit ehemaligen Nachbarn aus Druschba. | Foto: Alexander Gerdt

Vom Flughafen Moskau ging es für die Familie nach Stuttgart, wo sie für wenige Wochen in einem Übergangsheim lebten, bevor sie Richtung Rheinland-Pfalz weiter reisten. Ein Jahr zuvor zog Alex‘ Tante samt Familie bereits nach Trier, so, dass sich seine Eltern dazu entschlossen, ihr zu folgen. In Trier lebte die Familie zunächst wieder in einem Übergangsheim, bevor sie eine eigene Wohnung erhielt.

„Meine Kindheit in Deutschland, also ab vier Jahren, würde ich als ziemlich normal beschreiben“, erinnert sich Alex, „Ich hab sehr schnell Anschluss gefunden, hatte viele Freunde, davon überwiegend „normale“ Deutsche. Ein Grund dafür war sicherlich, dass ich mich sehr früh dazu entschloss, einem Sportverein beizutreten.“ Mit sechs Jahren war Alex bereits im Fußballverein aktiv, wo er der Einzige mit Migrationshintergrund war. Alex fand seinen Weg in der neuen Heimat: Erst Realschule, dann Ausbildung, anschließend holte er auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur nach, um in Aachen Wirtschafts-Ingenieurwesen zu studieren. Seit zwei Jahren lebt und arbeitet er in Frankfurt.
 

Dort waren wir die Nazis und hier die Ausländer

 
Alex´ Haus in Druschba. | Foto: Alexander Gerdt

Die Integration seiner Eltern sei nicht so reibungslos verlaufen. Sein Vater fand zwar wenige Wochen nach Ankunft in Trier eine Arbeit, allerdings war diese sehr hart und unterbezahlt. Seine Ausbildung als Kraftfahrer wurde nicht anerkannt, so dass er anfangs als Lagerist arbeitete. Alex´ Mutter blieb die ersten Jahre zu Hause und kümmerte sich um die Kinder. Nach einer mehrmonatigen Schulung als Bürokauffrau, erhielt sie eine Stelle im Einzelhandel. „Für Außenstehende schien es, dass alles ohne Probleme verlief, aber gerade anfangs haben meine Eltern unschöne Erfahrungen gemacht. Beschimpfungen als Ausländer und Russen gehörten zur Tagesordnung“, erzählt Alexander, und fügt mit einem Lächeln hinzu, dass das heute natürlich kein Thema mehr sei.

Die Frage, ob die alte Heimat eine große Rolle für die Familie spielte, verneint Alex. „Außer dem kasachischen Essen haben wir nichts übernommen. Bei anderen Familien, die rübergekommen sind, schaut das komplett anders aus, selbst bei unseren Verwandten.“ Grund für den Rückzug sieht Alex – anders als in Medien oft behauptet – in den absolut fehlerhaften behördlichen Integrationshilfen und vor allem die fehlende geschichtliche Aufklärung der damaligen Bevölkerung, was die Kasachstan– bzw. Russland-Deutschen angeht. Der Wille zur Integration sei bei den Familien sehr groß gewesen, es herrschte eine regelrechte Euphorie durch die Rückkehr in die „wahre“ Heimat. Nach wenigen Wochen in Deutschland verflog diese aber recht schnell durch die Anfeindungen bzw. Beschimpfungen.

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„In der Sowjetunion waren wir wenige Wochen zuvor noch Faschisten bzw. Nazis und hier auf einmal Ausländer und Russen“, erzählt Alex. Die meisten Familien haben sich zurückgezogen und in ihrer eigenen Welt gelebt. „Meine Eltern haben sich trotz der äußeren Umstände entschieden, nicht so schnell aufzugeben. Sie waren gewillt, sich zu integrieren.“

Mit dem Rucksack nach Kasachstan – 2016

 
Mit dem Mietwagen fahren die beiden Freunde zum Hochplateau Altyn-Emel. | Foto: Alexander Gerdt

Trotz der erfolgreichen Integration in Deutschland ließ Alex der Gedanke nicht los, zu seiner Geburtsstätte nach Schu zurückzukehren. Da er noch sehr jung war, seien so gut wie alle Erinnerungen verblasst, womit die Neugier wuchs, diesen verlorengegangenen Teil seines Lebens wiederzufinden. „Die richtige Gelegenheit hatte sich vorher nie ergeben. Unter meinen Verwandten ist keiner so wirklich interessiert. Ich bin allerdings auch der Jüngste aus der Familie und damit der Einzige, der sich an Kasachstan nicht erinnern kann“, erklärt Alex.

Erst in seinem Arbeitskollegen, Patrick Kraft (27), findet er einen Reisepartner, der sich bereit erklärt, mit ihm einen Road Trip durch Kasachstan zu unternehmen. Kennengelernt haben sie sich vor zwei Jahren im Unternehmen, wo beide im Bereich der nachhaltigen Energieversorgung tätig sind. „Vom Typ und von der Denkweise her sind wir ziemlich ähnlich: weltoffen, neugierig, interessiert an anderen Kulturen und gern mit dem Rucksack unterwegs!“, beschreibt Alex seinen Kollegen Patrick, der mittlerweile einer seiner besten Freunde geworden ist.

Ausschlaggebend für die Reise, sei ein Angebot auf dem Portal eines Reiseanbieters gewesen. Beide beschlossen, für zwei Wochen durch das Land zu reisen. Alex´ Eltern hielten ihn für verrückt und äußerten ihre Sorgen, dass er nur wenig Russisch spräche und keine direkte Anlaufstelle z.B. bei Verwandten vor Ort habe. „Dann warnten sie mich natürlich noch vor der Polizei, zumal unser Heimatdorf Druschba, laut meiner Eltern, ein bekannter Hotspot für Hasch sei. Das Zeug wächst dort angeblich in der Steppe wie Unkraut“, lacht Alex. (Gefunden haben sie es nie.)

Ein Blick nach vorne

Die Reise nach Kasachstan begann mit dem Flugzeug von Frankfurt am Main über Astana nach Atyrau. Von dort aus nahmen Alex und Patrick einen Zug nach Turkistan, wo sie sich einen Tag aufhielten und anschließend mit dem Zug Richtung Almaty aufbrachen. „Die Zugfahrt war einmalig“, schwärmt Patrick und verrät eine der vielen Anekdoten: „Alex machte ein Foto, wobei sich der Zugbegleiter von hinten heranschlich und ihm – mit einem Schmunzeln im Gesicht – ins Ohr flüsterte: „Hey, Bruder, das ist hier nicht erlaubt.“ Auch die Fahrt mit dem Mietwagen sei ein Abenteuer gewesen, mit der immer wieder aufkeimenden Panik in Polizeikontrollen zu geraten: „Wir agierten vorbildlich: Musik leise, Sonnenbrille und Caps runter, beide Hände ans Lenkrad und aufrecht sitzen“, lacht Patrick.

Mit dem Auto bereisten sie die Landschaftsräume rund um Almaty: Nationalpark Alatau, Schu, Nationalpark Altyn Emel und Charyn-Canyon. Ein besonderes Highlight sei das Hochplateau im Altyn Emel für Alex gewesen. Die unendlich lange Straße mit grandiosem Bergpanorama und atemberaubender Tierwelt. „Doch meine Geburtsstätte Schu und mein Heimatdorf Druschba zu besuchen gehörten definitiv zu den schönsten Erlebnissen.

Es war seltsam, irgendwie alles zu kennen, aber sich an nichts zu erinnern“, lächelt Alex und erwähnt weiter, dass er durch die Beschreibung seines Vaters durch Google-Earth genau wusste, wo das alte Haus in Druschba stand. „Nach kurzer Zeit wurden wir von dem aktuellen Besitzer (ein Kasache) angesprochen, was wir hier machen würden, da wir mit dem Auto direkt vor der Haustür parkten. Er selber konnte sich an meine Eltern nicht erinnern, dafür aber eine Nachbarin, die schon immer in der Straße gewohnt hatte. Sie sprach sogar noch etwas Deutsch und meinte, sie könne sich an mich erinnern.“

Alex (r.) und Patrick (l.) erkunden Kök-Töbe in Almaty. | Foto: Alexander Gerdt

Die Frau lud beide in ihr Haus zum Essen ein und erzählte viel von früher, über die gute Nachbarschaft zu den Deutschen, die heutige sei bei weitem nicht mehr so gut. Ein Miteinander wie früher gebe es nicht mehr, habe die Frau Alex erklärt. Nach dem Essen folgte eine geführte Dorftour mit den Highlights Schule, Kindergarten und Dorfplatz. „Leider sind wir zum Abschluss nicht in unser altes Haus reingekommen, obwohl die Nachbarin extra nachgefragt hatte. Das fand ich schade“, gesteht Alex.

Ganz besonders sei für Alex der Besuch des Friedhofes gewesen, den er in der Steppe unweit von Schu aufsuchte. Dort liegt das Grab seines Opas, der schon einige Jahre vor seiner Geburt verstarb und als Einziger aus seiner Familie in Kasachstan begraben worden sei. „Wir haben das Grab leider auch nach Stunden der Suche nicht finden können, aber das Gefühl in der Nähe gewesen zu sein, war für mich persönlich ganz besonders“, erinnert sich Alex. Die deutschen Gräber haben er und Patrick zwar schnell finden können, jedoch waren sie in einem schlechten Zustand, und dadurch nicht eindeutig lesbar.

Ein Blick in sich selbst: Kasache oder Deutscher?

 
Alex und seine fünf Jahre ältere Schwester Natalia in Kasachstan. | Foto: Alexander Gerdt

Verändert habe sich Alex durch die Reise nicht. Er fühle sich auch nicht als Kasache, aber erleichtert und dankbar, seine Herkunft zu kennen. Er habe während seiner Kindheit viele Geschichten über das Steppenland gehört, hatte aber keine Vorstellung, wie es dort aussehe. So machte Alex als der Jüngste der Familie den ersten Schritt in die alte Heimat.

Zurück nach Kasachstan werde er mit Sicherheit kommen, möglicherweise schon nächstes Jahr zur Expo in Astana. Auch seine Eltern seien nun gar nicht mehr so abgeneigt, ihn zu begleiten, verkündet Alex freudig.

Anne Grundig

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