Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice in Polen, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus ihrer Niederschrift.

Wir zogen in den ersten Stock einer Wohnung neben Onkel Josefs Wohnung. Die unteren Zimmer wurden wieder verbarrikadiert, damit wir einigermaßen sicher waren. Wir hatten Angst, unten zu wohnen. Onkel Josef war ein schwer behinderter Mann, er hatte in der Landwirtschaft gearbeitet und ihm wurden beide Beine gequetscht. Dadurch konnte er ganz schlecht laufen. Wir haben viel von ihm gelernt, er hat Schuhe und Uhren repariert. Bei den Uhren konnten wir ihm oft helfen, wenn er mit seinen Fingern nicht zurecht kam. Wir lernten auch Schuhe flicken und besohlen. Wir haben Birken im Wald geholt, gesägt, gespalten und Holznägel daraus geschnitzt zum Besohlen der Schuhe. Beim Durchstöbern leerer Häuser haben wir immer nach Wachstuch aus zurückgelassenen Kinderwägen gesucht. Daraus haben wir Schuhe mit geflochtenen Strohseilen gemacht. Für fünf Pfund konnten wir sie im Krankenhaus in Haynau eintauschen. Unser Nachbar hat aus Holz Schuhsohlen geschnitzt, wir haben Schuhe mit gut erhaltenen Oberteilen gesucht und diese auf die Holzsohlen genagelt. Das brachte immer ein paar Zloti ein.

Onkel Josef hatte in seiner riesigen Küche einen Sägemehlofen, da hatten wir es immer schön warm. Jeden Morgen holten wir Kinder drei große Säcke Sägemehl aus einer drei Kilometer entfernten Scheune. Am 19. November 1946 gegen Abend hieß es, morgen früh um sieben Uhr müssten wieder alle Deutschen auf dem Sammelplatz sein.

Da wurde wieder die ganze Nacht gepackt, und das um diese Jahreszeit. Gegen Mittag fuhren uns die Polen mit den Pferdewagen nach Haynau. Unterwegs wurde die Hälfte unserer Sachen vom Wagen geworfen und musste liegen bleiben. Onkel Josef und Tante Agnes mussten dableiben, denn sie hatten polnische Namen, er hieß Smiatek, sie Latoschinski. Tante Agnes kam aber doch heimlich mit. Ein Stück weiter wurde wieder Gepäck runter geworfen, doch dieses Mal hatten wir Glück, unseres war nicht dabei. In Haynau durften wir in leer stehenden Häusern übernachten, das Gepäck blieb auf den Wagen. Am Morgen fehlte wieder ein Sack von uns. Ich hatte mir eine kleine Kiste mit Nippes gesammelt, die war auch weg. Nun hieß es wieder zurück nach Wittchendorf, die Strassen sind verstopft. Das war nur alles eine Schikane, damit die Polen die Wohnungen ausräumen konnten. Unsere Vorräte waren aber bei Onkel Josef.

Um die Weihnachtszeit wurde es so kalt, uns gefror nachts die Bettdecke am Kinn an. Da hat uns Onkel Josef zu sich in die große Küche geholt. Es wurde ein großes Bett in der Küche aufgestellt und darin haben wir zu sechst geschlafen, es war sehr eng, aber warm. Das war für uns sehr schön, morgens wenn wir aufstanden, war es warm und das Frühstück war auch schon gemacht. Es wurde wieder eine traurige Weihnacht ,die darauffolgenden Geburtstage ebenso.

Am 19.Februar 1947 wurde ich von der Miliz geholt und musste zu einer polnischen Familie in den Haushalt. Die polnische Miliz war sehr streng, da hat keiner widersprochen. Dort musste ich im Haushalt helfen, die Kinder versorgen, im Stall helfen und später die Kühe hüten. Mich überläuft es heute noch eiskalt, wenn ich daran denke, dass ich als Zehnjährige zwei Kühe und einen Bullen am Strick halten musste. Ich bekam 80 Zloti im Monat, soviel kostete auch ein Brot, aber ich hatte zu essen. Und immer wieder hieß es, wir müssen raus. Mutter musste zwei Dörfer weiter bei einem Bauern arbeiten, aber sie durfte die Kleinen mitnehmen. Ich lernte schnell und gut polnisch und durch meine Arbeit konnten wir auch wieder an Tante Anna schreiben. Kurz darauf schrieb uns eine Nachbarin, die polnisch geworden war, dass Stoppocks ausgewiesen wurden. Tante Agnes größter Wunsch war, noch einmal ihr Elternhaus zu sehen. Wir hatten durch Onkel Josefs und unsere Arbeit so viel Zlotis verdient, dass wir das Fahrgeld für sie und Onkel Josef zusammen hatten. Onkel Josef sprach perfekt polnisch und Tante Agnes stellte sich stumm, so ging die Fahrt glatt. Aber wir hatten große Angst, ob wir sie je wiedersehen würden. Tante Agnes war total fertig und sehr erschüttert. Tante Anna war ja schon weg, aber der Hof von ihnen sah fürchterlich aus. Das Haus war ganz ausgeplündert, die Ställe waren alle leer. Die Felder hatten Tante Anna und Onkel Bernhard noch bestellt, aber ernten konnten sie nicht mehr und wir mussten zusehen, wie wir satt wurden. Bei einer uns gut bekannten Familie in Frauenwaldau, die auch polnisch geworden war, stand ein großer Wäschekorb mit der Aussteuer von Tante Agnes: Niemand hatte mit ihrer Rückkehr gerechnet. Tante Agnes nahm etwas Bettwäsche und ein Federbett mit, der Rest blieb dort.

Auf der Rückfahrt wurde Tante Agnes sehr krank und es wurde so schlimm, dass Onkel Josef dafür sorgte, dass sie in Haynau einen Arzt aufsuchen konnte. Wir brauchten 1000 Zloti für den Arzt und die Apotheke, aber Onkel Josef machte auch das möglich. Später gingen Mutter und Tante Agnes bei Bauern Kartoffeln lesen und bekamen 25 Zloti pro Tag. So konnten wir das geliehene Geld zurückgeben. Das Essen waren gestampfte Kartoffeln und darüber Rotebeetesaft. Bärbel fand eine Freundin und machte so ihre ersten bitteren Erfahrungen, denn das Mädchen hat sie beklaut und war auch sonst sehr schlecht. Am 08. August 1947 mussten wir Wittchendorf wieder mal verlassen. Dieses Mal kam auch Onkel Josef mit, obwohl er und Tante Agnes nicht durften, weil sie polnische Namen hatten, aber wir waren entschlossen, nur zusammen weiter zu ziehen

Maria Gliem

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