Wissen Sie, ich bin ein guter Mensch. Ich bin nicht gerade Bischof Tutu, aber ich bin wohl um einiges besser als Hitler. Ah, ich sehe schon, ich muss das etwas besser eingrenzen. Sagen wir mal, ich würde Sie nicht umbringen wollen, wenn Sie mein Auto zerkratzen, es sei denn, Sie tun es absichtlich. Also, wenn ich es mir recht überlege, bin ich damit eher normal als gut.

Der Grund für meine Normalität muss in der Enttäuschung liegen, die sich mit dem Erwachsenwerden langsam einschleicht. Als Kind möchte man ja unbedingt zu den Guten gehören, bis man irgendwann einmal merkt, dass in der Welt der Erwachsenen ganz andere Regeln gelten. Das neue Zauberwort heißt „soziale Prognose“. Wenn man vor einem Gericht steht, weil man seine Millionen am Fiskus vorbei in die Schweiz gebracht hat, wird der Richter einem nicht glauben, dass man es aus Nächstenliebe zu den Hungernden in Afrika tat und die Schweiz lediglich ein Umweg dorthin war. Man kommt aber mit einem blauen Auge davon, wenn man eine gute soziale Prognose vorweisen kann. Ein Top-Manager kommt so in der Regel auf Bewährung frei und zahlt eine Geldstrafe, die er anschließend mit Fernsehinterviews gleich wieder zurückerwirtschaftet. Ein einfacher Arbeitsloser dagegen, dessen soziale Prognose auf den wackligen Füßen eines Hauptschulabbrechers balanciert, muss damit rechnen, schon wegen einer unbezahlten Rechnung für ein paar Wochen zu Gast beim Staat sein.
Vor einigen Tagen habe ich mein Studium abgeschlossen. Seitdem blättere ich ständig im Strafgesetzbuch und versuche einzuschätzen, was ich mir nun erlauben kann. Ich bin sicher, ich würde bei einem Ladendiebstahl nicht ins Gefängnis wandern. Ich könnte auch fast unbestraft bestimmt einen Politiker mit Tomaten bewerfen –
zumindest auf Landesebene. Und weil ich Kulturwissenschaften studiert habe, könnte der Richter auch Verständnis für den Besitz leichter Drogen aufbringen. Problematisch könnten aber die verbalen Ausfälle sein. Welch tragisches Schicksal würde mich ereilen, wenn ich behaupten würde, dass zum Beispiel die deutsche Amnestie für die Steuerhinterzieher ein Handel mit Gerechtigkeit und somit ungerecht sei? Oder wenn ich den allgemeinen Antiamerikanismus in Deutschland als überhebliches Gehabe und verkappten Nationalismus bezeichnen würde? Ist mein Studium wertvoll genug, zu behaupten, die Studiengebühren an deutschen Hochschulen seien ein weiteres Mittel, den Druck auf die Unterschichten zu erhöhen, damit sie endlich mit billigen Arbeitskräften aus dem Ausland zu konkurrieren bereit sind? Werden sich im Gerichtssaal meine Anhänger versammeln, wenn ich für den Opportunismus und den Obskurantismus deutscher Politiker die Bevölkerung selbst beschuldige?
Wahrscheinlich schon. Und das ist das Gute an Deutschland. Ich meine, damit hat Deutschland eine gute soziale Prognose. In meinem Heimatland ist es anders. Dort kann man sich zwar mit genügend Kapital auch ein Kapitalverbrechen erlauben, mit guter sozialer Prognose aber hat das nichts zu tun.
Womöglich hängt alles mit dem Alter zusammen. Die Erwachsenen verwandeln sich mit der Zeit zu alten Menschen und damit wieder zu Kindern. Die sozialen Prognosen sind nur noch lästiger Lärm der Jugend und es zählen wieder die elementaren Kategorien „Gut“ und „Schlecht“. Geld, Macht und Aussehen spielen im Alter kaum noch eine Rolle. Vor allem geht es um die Gesundheit. Und so ist wohl auch Deutschland mit seiner Reife und Weisheit eher auf die innere Gesundheit und weniger auf Status und Geltung bedacht. Meine Heimat dagegen verfolgt ihre flüchtigen Interessen und verschwendet an ihre Gesundheit keinen Gedanken. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich eines Tages alle Nationen in einem großen Welt-Altenheim einfinden und dort gut miteinander auskommen. Und vielleicht werden sie plötzlich begreifen, dass sie sich nicht in einem Altenheim, sondern in einem Kindergarten befinden und das Ganze eigentlich erst beginnt…

15/08/08

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