Schreiben als Kampf um Menschenwürde: Carolin Emckes beeindruckender Reportagenband „Von den Kriegen“

Von den Rändern der geordneten und wohlversorgten Welt überträgt das Fernsehen alltäglich die Bilder des Grauens, die man in den Wohnzimmern der Wohlstands- und Sicherheitsinseln mit entsetztem Kopfschütteln, nicht selten mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis nimmt. Man versteht nicht, was man sieht. Denn im Zeitalter der globalen Bildberichterstattung scheinen sich die immer neuen Schichten von Gesehenem zum bloßen Flimmern übereinander zu schieben. Der Blick springt vom Nahen Osten auf den Balkan, von dort zur Tsunami-Katastrophe, in die Favelas Südamerikas und in den Irak. Wer unter diesen Umständen das Elend nicht nur abfilmen, sondern beschreiben, mit Begriffen begreifbar machen will, tritt gegen einen Goliath der Bilderwucht an. Kann sich das geschriebene Wort gegen die Flut der Bilder behaupten? Sind geschriebene Reportagen in der Tradition der großen Journalisten überhaupt noch zeitgemäß?

Caroline Emcke zeigt in ihrem Buch mit dem Titel „Von den Kriegen“, dass man diesen Kampf gegen Goliath gewinnen kann. Man kann ihn gewinnen, aber nicht mit Gegenwucht, sondern mit Beharrlichkeit, Mut, Feingefühl. Denn bei der Lektüre ihrer Berichte macht man die paradoxe Erfahrung, dass gerade ohne Bilder etwas anschaulich wird, was die Bilder nicht zeigen: Die Verzweiflung, die Beklemmung, die Menschen hinter den Bildern, ihre Geschichten, Ängste und Hoffnungen. In diesen Texten zeigt uns die SPIEGEL-Reporterin die Menschen, die in den Kriegen zwischen die Fronten geraten, die in aussichtsloser Lage versuchen, sich zu retten und das Wenige zu erhalten, das sie noch haben. Es ist das Panorama eines Kampfes ums überleben, eines Kampfes um Menschenwürde, das Caroline Emcke hier entfaltet. Dabei sind ihre Berichte aus dem Irak, aus Afghanistan, dem Kosovo, Kolumbien, Nicaragua, Pakistan und anderen Ländern aufwühlend und doch nie voyeuristisch oder effekthascherisch, sondern geprägt von einem Respekt gegenüber den Menschen vor Ort.

Die Reportagen sind dabei zu „Briefen an Freunde“ geworden, und diese Form erlaubt es ihr, die Erlebnisse als persönliche Erfahrungen zu schildern. Dabei biedert sie sich dem Leser nie an, sondern bleibt auf Distanz – selbst noch zu den eigenen Gefühlen, die sie reflektiert. Wenn sie im Irak selbst unter Beschuss gerät und den erlösenden Treffer der Amerikaner und damit den Tod der irakischen Verteidiger herbeisehnt, geht sie den eigenen Impulsen nicht auf den Leim, sondern leitet zu einer Reflexion über „eingebetteten“ Journalismus über. So also funktioniert die Zensur in den Köpfen! Man merkt diesen Texten an, dass sie von einer Frau mit weitem Horizont geschrieben wurden, mit dem intellektuellem Horizont einer promovierten Philosophin, aber auch mit politischem Hintergrundwissen einer soliden Journalistin. Aus dem Flimmern der Bilder treten scharfe Konturen hervor – als drehe man den Sucher einer Kamera.

Und darin liegt vielleicht die beeindruckendste Wendung dieses Buches: in der Verknüpfung der Beschreibung der Gewalt einerseits mit der Reflexion über die ihr zugrundeliegende Seelenverrohung andererseits. Angesichts der Abstumpfung des Menschen bleibt man mit Carolin Emcke fassungslos: Was sind das für Menschen, die mit Frauen handeln? Das Wort „Krieg“ nimmt dabei eine neue, eine umfassendere Bedeutung an. Krieg herrscht, wo Menschen sich unterdrücken, ausbeuten, versklaven, demütigen. In einem Krieg befinden sich jeweils die Straßenkinder in Bukarest, die Bewohner Manhattans am 11. September, die Mütter in den kolumbianischen Elendsvierteln, die Frauenrechtlerinnen in Pakistan…

Diese Kriege kennen keinen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten, beginnen unmerklich und scheinen nicht zu enden. Wo es keine Kriegserklärung gab, ist auch kein Friedensschluss denkbar. Und so bleibt dem Leser am Ende ein Zitat des Philosophen Emmanuel Lévinas im Gedächtnis, das Carolin Emcke einer Reportage aus Nicaragua voranstellt: „Gewaltsam ist jede Handlung, bei der man handelt, als wäre man allein.“ So klar und wahr hat man das noch nicht gesehen.

Carolin Emcke, Von den Kriegen – Briefe an Freunde, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 2004

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