Unseren Kolumnisten hat die Liebe nach Kasachstan verschlagen. Nun lebt er als deutscher Expat in Almaty. Zurzeit weilt er jedoch bei seiner Familie in Deutschland und erinnert sich an seine Fahrt mit der Eisenbahn von Almaty nach Berlin vor einigen Jahren.

Ich bin in Deutschland, im Sommerurlaub, mal wieder zu Besuch bei den Eltern. Ich bin diesmal komfortabel von Kasachstan nach Deutschland geflogen und hatte bei einem Transitstop gar die Möglichkeit, für ein paar Stunden das herrliche Kiew zu besuchen.

Aber eine solche Reise geht auch ganz anders. Vor einigen Jahren bin ich von Kasachstan nach Deutschland mit der Eisenbahn gefahren. Die Fahrt dauerte länger als eine Woche und führte mich über mehrere tausend Kilometer und vier Zeitzonen von Almaty über das westsibirische Barnaul, Moskau, Minsk und Warschau nach Berlin. Ich fahre gerne und viel Zug: Ich liebe die alten, sowjetischen Langstreckenschlafwagen. Die Wagen, die einst im ostdeutschen VEB Ammendorf hergestellt wurden und bis heute im fernen Zentralasien im Einsatz sind. Ich mag die Atmosphäre in den Zugabteilen, das Geruckel und den Klang, wenn die Waggons über die Schwellen rumpeln. Eine Zugfahrt von Kasachstan nach Deutschland bedeutet für mich Eisenbahnromantik pur. Welch ein Abenteuer, eine solch weite Strecke zu Land zurückzulegen.

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In den 1990er Jahren waren diese Züge voll mit Kasachstandeutschen, die zu Tausenden gen Westen aufbrachen und ihre kasachische Heimat für immer verließen, um in Deutschland ein besseres Leben zu beginnen. Für sie war diese Fahrt wohl kaum so romantisch und abenteuerlich wie für mich. Das Ziel dieser Menschen war der Berliner Bahnhof Lichtenberg, einst der wichtigste Fernbahnhof der Hauptstadt der DDR. Nicht nur, weil viele ihre deutsche Muttersprache nicht mehr beherrschten, war diese Zugfahrt oft eine Reise ins Ungewisse, voller Hoffnung, aber auch voller Sentimentalität, Heimweh und Tränen. Andersherum verließen vom Bahnhof Lichtenberg bis 1994 die letzten Soldaten der Roten Armee den einstigen sozialistischen Bruderstaat in Richtung der ehemaligen Sowjetunion. Seitdem sind Jahrzehnte vergangen. Züge aus Russland kommen heute am neuen, glänzenden Hauptbahnhof an. Die ehemaligen Kurswagen von und nach Kasachstan – einst die längsten Eisenbahnverbindungen, die in Deutschland starteten –existieren längst nicht mehr.

Auch ich spürte die Sentimentalität derer, die für immer gingen, als ich aus dem Zugfenster die Abendsonne im kräftigen Rot über der flachen, staubigen, nordkasachischen Steppe untergehen sah. Seit Abfahrt vom Bahnhof „Alma-Ata-2“ war bereits ein guter Tag vergangen, als die Sonne über Semipalatinsk im Nordosten Kasachstans unterging. Die Entfernungen sind kaum zu greifen. Man hat Zeit auf einer solchen Zugfahrt viel Zeit zum Nachdenken. Die kasachisch-russische Grenze erreichte der Zug in der tiefen Nacht. Auch die Grenzkontrollen um drei Uhr früh gehören zu dieser Zugreise, seitdem die Sowjetunion zusammengebrochen ist und neue Grenzen die ehemaligen Eisenbahnmagistralen durchschneiden. Moskau war von hier noch immer mehr als zwei Tage Fahrt entfernt.

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Während der Zug aus Osten Moskau am Jaroslawler Bahnhof, dem Kilometer Null der legendären, 9288 Kilometer langen, Transsibirischen Magistrale erreichte, musste ich für die Weiterreise nach Westen mit der Metro zum Belarussischen Bahnhof. Im Zweiten Weltkrieg brachen die Soldaten der Roten Armee von hier zur Front auf. In den 1990er Jahren wiederum verließen von diesem Bahnhof aus auch etliche Russlanddeutsche mit den alten, sowjetischen Schlafwagen ihre russische Heimat für immer.

Minsk war nach einer weiteren Nacht erreicht. Von hier geht es Schlag auf Schlag. Nachdem im Umspurwerk in Brest neue Räder mit der schmaleren, europäischen Spurweite an den Zug montiert wurden, war es nur noch einen Katzensprung bis Warschau. Die Oder wiederum überquerte der Zug am frühen Morgen und damit war das Ziel der Reise, Berlin, zum Greifen nahe.

Der Zug erreichte den neuen Berliner Hauptbahnhof nach einer über einhundertstündigen Fahrt ohne Verspätung. Ich war daheim angekommen. Diese bis Mitte der 1990er Jahre so bedeutende Ost-West-Verbindung hat heute seine Bedeutung verloren. 2013 erreichte man zum letzten Mal die kasachische Hauptstadt Astana ohne umzusteigen von Berlin aus. Fliegen ist jetzt billiger, geht schneller und ist komfortabler. Trotzdem, auch mit einigen Umstiegen, bleibt es bis heute eine sentimentale Zugreise, besonders wenn man die vielen Schicksale derer nicht vergisst, die vor 20 Jahren auf dieser Route Kasachstan für immer verließen.

Philipp Dippl

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Philipp Dippl
Den Deutschen Philipp Dippl hat es durch die Liebe nach Almaty verschlagen. Vor kurzem hat er sein Studium der russischen Kultur in Bochum und Moskau abgeschlossen. In seiner wöchentlichen Kolumne erzählt der gebürtige Franke die kleinen Alltagsgeschichten der Apfelstadt.