Abends, zwei Mal pro Woche, treffen sich fünf Jungs in ihrem Proberaum in einem stickig-warmen Keller. Sobald sie ihre Instrumente angeschlossen haben, wird es laut, das Zwerchfell vibriert. Die Band Paradigma Hall ist Teil der Almatyner Metal-Szene. Sie mixen Hip-Hop und Metal und knüpfen damit an eine Bewegung an, die vor etwa zehn Jahren in Europa ihren Höhepunkt gefeiert hat: der Newmetal.

/ Bild: Antonie Rietzschel. ‚Sänger Cookie (1 v. l) und seine Jungs. Sie wollen keine Modeerscheinung sein, sondern einzigartig.’/

In einem der zahllosen Einkaufszentren in Almaty, zwischen schicken Läden, die perlenbestickte T-Shirts, Stöckelschuhe, teure Uhren und tailliert geschnittene Sakkos anbieten, sitzen drei Jungs in einem Café. An ihren Körpern schlabbern Skate-Klamoten, Piercings krallen sich in ihre Gesichter. An den Nachbartischen schminken sich girly Gören mit pink lackierten Fingernägeln und zu engen Jeans zum x-ten Mal nach. Auf den im Hintergrund hängenden Bildschirmen erscheint Bill Kaulitz von Tokio Hotel, die drei Jungs platzen gleichzeitig hervor: „Oh shit!!“

Sie sind Mitglieder von Paradigma Hall, einer Band aus der lokalen, überschaubaren Metal-Szene, die sich ursprünglich im und um den Rockschuppen ‚Zhest‘ und einige wenige Proberäume gebildet hat. Die Band setzt sich aus fünf Jungs zusammen, die die klassische Besetzung einer Rockgruppe – Bassgitarre, elektrische Gitarre, Gesang und Schlagzeug – um einen DJ erweitert haben. Vor allem dessen Arrangements verleihen Paradigma Hall einen atmosphärischen Sound. Davon leitet sich auch ihr Name ab. Er soll ihre Musik beschreiben. „Eine Halle ist ein Ort, in dem Atmosphäre entsteht. Paradigmen sind Vorstellungen, Denkmuster. Mit unserer Musik möchten wir einen akustischen Raum schaffen, in dem sich Gedanken entfalten können“, so der Sänger Alexander, der in der Szene unter dem Namen Cookie bekannt ist.

„Mach, was du willst!“

Im Oktober standen sie das erste Mal auf der Bühne. Mit aufgerissenen Augen, die weiße Schminke durch Schweiß verwischt, starrte Cookie in die dunkel gekleidete Menge. Er sah diesmal gar nicht aus wie ein Skateboarder, sondern trug viel Kajal und war in eine Zwangsjacke gehüllt. Bei ihrem Auftritt im Sport Café, einer alten Halle beim Zentralstadion, die auch einige Bands zum Proben nutzen, zeigten Paradigma Hall, was sie meinen, wenn sie ihre Musik als atmosphärisch bezeichnen. Düster brach das Gewitter aus den Boxen, das der DJ zusammengemixt hatte. Schwere, mächtige Gitarrenriffs folgten auf melodiöse, aufgelöste Akkorde, die Hip-Hop-Passagen untermalten. Durch einen Effekt-Fleischwolf gedreht, hörte sich Cookies Stimme plötzlich an, wie die eines Roboters. Das Quintett brannte ein Feuerwerk von Genre-Crossovers ab und verschaffte sich Gehör bei dem jungen Publikum, das sie nach dem Auftritt umringte und zum Konzert gratulierte.

„Mach, was du willst!“ ist das Motto des Bassisten Rabbit. Man kann es auch auf Paradigma Hall beziehen. „Heute Metal, morgen Core. Jede zweite Band macht eine Art Metalcore“, kritisiert der 19-jährige die Mode, die in Europa derzeit Armeen ähnlich klingender Bands ausspuckt. Davon heben sich Paradigma Hall ab. Aber auch die Musik, die sie machen, war einmal modisch.

Proberaum statt Hinterhof

Ende der Neunzigerjahre begannen in den USA Bands wie Korn und Deftones die Musikwelt zu revolutionieren: sie mischten Hip-Hop mit tiefen E-Gitarren, legten mehr Wert auf die Rhythmik und experimentieren mit Dissonanzen. Geboren waren Metalrap und der sogenannte Newmetal, der in den ersten vier Jahren des neuen Jahrtausends sich aus der Senke einer experimentellen Underground-Szene hob, um mit Bands wie Linkin Park oder Limp Bizkit zu einem Massenphänomen zu werden. Man sprach damals vom Newmetal als dem Skatepunk der neuen Generation. Auch Cookie und der jetzige Schlagzeuger der Band hatten bereits zuvor in einer Metalrap-Band gespielt und nach einigen „Personaländerungen“ das neue Projekt Paradigma Hall gestrickt, um zu machen, was sie wollten.

„Meiner Mutter hat es anfangs nicht gefallen, dass ich in einer Band spiele“, sagt Cookie. „Sie hatte Angst, dass ich durch den Umgang mit anderen Leuten, die Metal hören, zum Alkoholiker werde.“ Mittlerweile hat sie aber die Leidenschaft ihres Sohnes akzeptiert und ihm sogar das Geld für die Miete des Proberaumes gegeben. Seine Mutter habe gemeint, es sei immer noch besser, als in irgendwelchen Hinterhöfen rumzuhängen, so Cookie. In Hinterhöfen hängen Paradigma Hall tatsächlich nicht rum, sondern zwei Mal pro Woche im Proberaum.

„Es ist schwer zu werden, wer man sein will.“

Im Proberaum schaut Lenin kritisch aus einem alten Bilderrahmen heraus.

Dennoch singen sie von ihnen, den Hinterhöfen der Seele. In Textzeilen wie „Wände ohne Fenster, Paranoia ohne Licht“ oder „Es ist schwer zu werden, wer man sein will, es ist schmerzhaft zu werden, wer man sein kann“, vertextet Cookie eigene Erfahrungen und Emotionen. Im Proberaum hat meist einer eine Idee für ein gutes Riff, dann jammen und basteln die Jungs daran herum. Mit dem Rohbau des Liedes im Hinterkopf schreibt dann der Sänger, der in einem Internetclub arbeitet, dann die Texte. „Mal sitz ich zu Hause rum und verarbeite meine schlechte Stimmung, wann anders laufe ich durch die Stadt und habe plötzlich einen Einfall“, erklärt er.

Dabei ist sicherlich die Inspiration durch andere Bands nicht zu unterschätzen, denn man sieht den 21-Jährigen praktisch nie ohne seine großen Kopfhörer. „Wenn ich die Musik höre, die meine Idole machen, dann gibt das mir einfach Emotionen“, meint er. Zu diesen Idolen zählen die Väter des Newmetal Korn und Deftones, aber auch Hardcorebands und andere Größen wie Taproot oder die Hip-Hopper der alten Schule Cypress Hill; zu den Idolen von Rabbit gehört sogar klassische Skatepunk-Bands. „Unterschiedliche Musikstile – das ist Paradigma Hall“, meint der Bassist, der außerhalb des Proberaums in einer Shisha-Bar arbeitet.

„Koks und Nutten“

Im Gegensatz zu den Texten ihrer Vorbilder sind die von Paradigma Hall jedoch komplett auf Russisch. „Englisch klingt immer gut, egal was man sagt. Durch das Russische kommt der Sinn aber einfach besser rüber“, sagt Cookie. „Wir wollten nicht einfach Motherfuck-Texte machen, sondern etwas mit Inhalt!“ Fünf fertige Musik-Pakete haben Paradigma Hall bereits in ihrem musikalischen Lagerraum. Das Repertoire wollen Sie aber noch erweitern, zum Beispiel mit Drum and Bass experimentieren. So seltsam die Mischung auch klingen mag, die Idee allein zeigt schon das Potenzial dieser Band. Ob das aber reicht, um zu den Deftones Kasachstans zu werden oder zumindest von der Musik leben zu können? Die Band ist sich einig: „Davon leben wäre natürlich klasse, also wenn wir unser Hobby zur Arbeit machen könnten!“ Und scherzend fügt Rabbit hinzu: „Ja genau. Mit Koks und Nutten!“

Von Vinzenz Greiner

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