Eine Lebenskünstlerin – sowohl auf der Bühne als auch im Haushalt. Die Reportage ist im Rahmen der ifa-Reportagewerkstatt in Sankt-Petersburg entstanden und ist mit dem ersten Preis prämiert worden.

Sie steht in der Mitte ihres blühenden, duftenden Gartens. Rosen, Kamillen, Apfelbäume, Himbeersträucher, Petersilie, Kartoffeln, Tomaten und Gurken – hier kann keine Stecknadel mehr zu Boden fallen. Sie trägt ein gelbes T-Shirt mit der Aufschrift „Познай новое. Учи немецкий“ und drückt ein schwarz-weiß-braunes Kaninchen der Gattung „Französischer Widder“ an die Brust.

In den Sträuchern grunzt und schnauft der Familienliebling Tschunja – ein schwarzes Hängebauchschwein. An seine Beine schmiegt sich der kugelrunde und gestreifte Kater mit dem offiziellen Namen Oswald und dem Spitznamen Kaiser. Die Hälse aufgerichtet und die „Stimmbänder“ angespannt, singen Hähne und Fasane in den Käfigen. Das ist nur ein Teil der ganzen Landwirtschaft, der an einen Zoo erinnert und den Olga Schneider – eine Russlanddeutsche aus Kasachstan – in Neudorf/Strelna führt.

Neudorf/Strelna ist zurzeit die einzige deutsche Siedlung im Nordwesten Russlands, wohingegen es Anfang des 19. Jahrhunderts etwa sechs deutsche Dörfer rund um St. Petersburg gegeben hat. 38 weiße zweistöckige Häuschen stehen in Reih und Glied an der Borowaja-Straße, wie die Wagen eines langen Eisenbahnzugs, der die Fahrgäste zu ihren Traumzielen bringt. Die Fahrgäste sind 50 russlanddeutsche Familien aus Kasachstan, die in den 90er Jahren in Neudorf/Strelna ihr Glück finden wollten und den Versprechen der Begründer glaubten, dass die Häuser ihnen bald übereignet würden. Jetzt allerdings schauen sie „dumm aus der Wäsche“. Auch die Familie Schneider geriet in eine solche Situation.
Olga Schneider deckt den Küchentisch. Dafür braucht sie nur ein Paar Bewegungen, und schon stehen drei Teller mit Grießbrei und Brot auf dem Tisch. Nebenbei fragt sie ihre Tochter Ludmilla Schneider: „Ljuda, hast du schon genug gesalzen und gepfeffert?“ Sie bereiten nämlich das Futter für die Tiere zu. „Ja, habe ich. Zuviel darf man auch nicht salzen“, antwortet Ludmilla. Olga setzt sich an den Tisch und fängt zu essen und gleichzeitig zu erzählen an.

„Ich bin am 12.03.1961 in Schemonaicha in Ostkasachstan geboren“. Ihre Eltern wurden in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts aus Sysran im Wolgagebiet nach Kasachstan deportiert. Olga ist in Kasachstan aufgewachsen, hat dort gelernt, gearbeitet und geheiratet. Ihre Familie besteht aus sieben Personen. Sie und ihr Mann haben vier Söhne und eine Tochter. Der älteste Sohn Vitali wird in diesem Jahr 33, der kleinste, Christopher, ist 16 Jahre alt. Vitali, Dmitri und Alexander haben bereits eigene Familien. Von den sieben Personen spricht nur die Tochter Ludmilla fließend Deutsch. Olga hat ihre Deutschkenntnisse schon seit langem so gut wie eingebüßt.

Nun sind die Teller leer. Olga springt auf: „Donja, ich bringe Thymian (Tschebrez), Antoniuskraut (Tschistotel) und Johanniskraut (Iwan-Tschai). Wir brühen grünen Tee auf“. Ohne Ludmillas Antwort zu hören, steigt sie die Stufen ihres zweistöckigen Hauses hinab, holt nach wenigen Sekunden eine Teekanne und gießt gekochtes Wasser hinein.

Ihre Bewegungen sind exakt und rasch wie bei einem erfahrenen Chirurgen. Sie genießt den aromatischen Tee. Die Sonnenstrahlen leuchten in ihr Gesicht. Dabei werden auf ihrem Kopf graue Härchen sichtbar – die Spuren der Vergangenheit. Olga hat hellbraune Augen unter den großen schwarzen Augenbrauen, die wie zwei starke Bögen zum Hineinsehen einladen. Rund um die Augen und den Mund sind tiefe Runzeln. Die Ursache ihrer Entstehung ist stets die eine: häufiges offenes Lächeln.

«In den 90er Jahren haben wir entschieden, in die Gegend bei St. Petersburg umzusiedeln. Wir glaubten, es gäbe da mehr Perspektiven und Aussichten für uns“, – setzt sie ihre Erzählung fort. Nach ein paar Jahren, am 14.Mai 1998, erfolgte dann der Umzug nach Neudorf/Strelna, das gerade erst gebaut wurde.

Heute gilt der Standort von Neudorf/Strelna als ausgesprochen vorteilhaft: Eine elitäre Gegend, in unmittelbarer Nähe des Konstantin-Palasts, des Repräsentationsobjektes der Putin-Ära, sowie der alten Zarenresidenz Petershof. Das Land hier ist teuer und begehrt. So wird die Gegend heute eingeschätzt. Was für eine Kolonie war „Strelna“ vor vielen Jahrzehnten?

Die deutsche Insel liegt nicht weit von St. Petersburg und ist vier Kilometer lang. Die Anzahl der Häuser hier beträgt 56 mit insgesamt 640 Seelen. Strelna war im kaiserlichen Russland eine der größten und blühendsten deutschen Kolonien des St. Petersburger Gouvernements. Sie wurde unter Alexander I. gebaut, der die Pläne seiner Großmutter, der Kaiserin
Katharina II. fortsetzte und fleißige Deutsche nach Russland einlud.

Die Geburt des ersten Kindes hier am 18. November 1810 wurde zum Datum der offiziellen Gründung der deutschen Kolonie „Strelna“.

Die Strelna-Deutschen erschlossen die Ländereien, die für die Landwirtschaft eigentlich gar nicht geeignet waren, säuberten die Straßen und Wälder, bauten Häuser und Schulen, bekamen Kinder und legten Gärten an.

Strelna wurde allmählich zum beliebten Erholungsort für die Bewohner von St. Petersburg. Attraktiv für die Sommerfrischler waren die gute Seeluft, die niedrigen Preise für die Mietwohnungen, die Nähe zur Stadt und zum Kaiserhof. Populär war die Kolonie unter den Petersburgern außerdem dadurch, dass man Anfang des 20. Jahrhunderts in Strelna die besten Milchprodukte erstehen konnte. Sie wurden sogar mit der Ostsee-Eisenbahn, der sogenannten „Milcheisenbahn“, aus Strelna nach St. Petersburg geliefert.

Die historischen Umwälzungen, die nach 1917 erfolgten, zerstörten jedoch die traditionelle Lebensweise des ganzen Volkes, darunter auch die der deutschen Kolonisten. Die Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert ist von Massensterben, Hunger, Erniedrigungen und Ungerechtigkeit gekennzeichnet. Aus einer gesunden und selbstbewussten Siedlergruppe verwandelten sich die Deutschen in ein armes, krankes und leidendes Volk. Deportation, Zwangsarbeitslager und Sonderkommandanturen verfolgten die Russlanddeutschen lange Jahre. Diese geschichtlichen Ereignisse werden das Schicksal der Russlanddeutschen auch im weiteren nachhaltig prägen.

„Achtung! Wir werden angegriffen! Ich wiederhole: wir werden angegriffen!“, klingt es unerwartet im Song aus dem Handy von Olgas Tochter.

In Neudorf/Strelna hat die Familie Schneider ein Haus erhalten unter der Bedingung, es nach zehn Jahren abkaufen zu können. „Dieses Projekt wurde von Deutschland initiiert“, erzählt Olga.

Die Bundesrepublik Deutschland wollte den Zustrom der Russlanddeutschen schließlich eindämmen. Man überlegte, dass es klüger und billiger sei, diesen Menschen eine Existenz in Russland zu ermöglichen als für ihren Unterhalt in Deutschland aufkommen zu müssen.
Außerdem wollte man die Chance nutzen, die fast dreihundertjährige Tradition deutscher Siedlerkolonien im Raum St. Petersburg wiederzubeleben.

Strelna/Neudorf sollte eine Mustersiedlung und ein Pionierprojekt werden. Man plante einen Neubau von 170 Häusern, in denen einmal 1000 Russlanddeutsche ein neues Heim finden sollten. Hier solle eine Gartenstadt entstehen – war der Traum der Väter des Projekts.

Das Geld, das die Häuserbesitzer auszahlten, sollte in Fonds eingesammelt werden, um damit die Infrastruktur der Siedlung zu verbessern: den Bau einer Schule, eines Kindergartens sowie eines Dorfladens. Natürlich sollten noch weitere Sozialeinrichtungen wie ein Begegnungshaus und ein Krankenhaus dazukommen.

Das Projekt war aber nicht von Erfolg gekrönt. Es wurde nur der erste Bauabschnitt fertiggestellt: die 38 Häuser, in denen heute 50 Familien leben. Alles andere war Blendwerk. „Vor kurzem haben wir unser Haus endlich aufgekauft – zu 10% des jetzigen Marktpreises. Zurzeit beträgt er 15.000.000 Rubel, während er sich im Jahre 1998 auf 485.000 Rubel belief. Der Boden gehört bislang noch nicht uns“, so Frau Schneider.

Die Bewohner der Siedlung haben diesbezüglich mehrmals Beschwerden eingereicht und sogar gestreikt. Vergebens. Dafür erschienen in der Gegend mehrere schöne drei-und vierstöckige Häuser der Petersburger Elite.

„Ich habe hier ein paar schöne Fotos“, wechselt Frau Schneider das Gesprächsthema und zeigt schon die Bilder der deutschen Laienkunstgruppe „Nemezkaja Sloboda – Deutsche Vorstadt“. „Ohne diese Gruppe würde ich hier verkümmern“. Sie hilft ihr, sich als Deutsche zu fühlen.

Olga Schneider, ihre Tochter Ludmilla und ihr Sohn Christopher sind schon seit vielen Jahren Mitglieder dieser Laienkunstgruppe. Jeden Sonntag treffen sich Sänger und Tänzer (etwa 40 Personen) im Deutsch-Russischen Begegnungszentrum. Jedes Konzert ist eine neue Seite in der Chronik der Familie. Olga Schneider und Ludmilla sind gemeinsam mit der Leiterin der Gruppe die Hauptsolisten. Christopher spielt Geige. „Nemezkaja Sloboda“ – „Deutsche Vorstadt“ zwang zum Mittanzen, und die zugereisten Zuschauer aus Riga, Petrosawodsk, Kronstadt, Saratow, Engels, Uljanowsk und Pskow applaudierten“, erzählt Olga Schneider fasziniert.

„Außerdem pflegen wir unser Volkstum dadurch, dass wir stets deutsche Feste wie Ostern, Nikolaustag und Weihnachten feiern“, behauptet Olga Schneider „Ljuda, erinnerst du dich noch daran, wie du uns zum Nikolaustag beglückwünscht hast?“. Die beiden lachen. Ludmilla zog einmal ein lustiges Nikolauskostüm an und schenkte ihren Familienmitgliedern Süßigkeiten in Stiefeln. Olga und Ludmilla würden auch gerne die Kirche in Neudorf besuchen, wenn es eine gäbe. „Die Reste der alten Kirche wurden abgetragen. Da befindet sich jetzt ein kleines Industriegebiet. Der Friedhof wurde auch sehr vernachlässigt.“ Damit verschwindet aber auch die Geschichte. Die Trauermonumente sind heute die einzigen Zeugen jener Zeit, da Revolutionen und Kriege fast alles zerstört haben.

Trotzdem geht das Leben weiter. Die Teetassen werden nachgefüllt, Lachen ertönt. Dieses Lachen ist der beste Beweis für das Lebensmotto von Olga Schneider: „Immer vorwärts, nie zurück!“

Von Ekaterina Salazgorskaja

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