Dagmar Schreiber arbeitet als Expertin für Tourismusentwicklung seit Juli 2008 in Almaty. Sie betreut im Informations- und Ressourcenzentrum Ökotourismus ein Netzwerk von ländlichen Gästehäusern in den schönsten Regionen Kasachstans. In ihrer DAZ-Serie stellt die bekennende Kasachstanfreundin lohnenswerte Reiseziele vor – dieses Mal eine Trekking-Tour von Almaty zum Issyk-Kul, die allerdings ohne sie stattfand.

/Bild: Dagmar Schreiber. ‚Das Versorgungslager von Bachyt und Ainur, in dem Kumys und Manty immer bereit stehen. ‚/

Aus der Traum. Es macht einmal „korks”, es tut höllisch weh, mir wird schwarz vor Augen – und dann finde ich mich gotteslästerlich fluchend im Grase wieder, den rechten Fuß merkwürdig verdreht in einem Murmeltierloch. Vom Zelt bis zum Gletscherfluss sind es 20 Schritte, ungefähr der zehnte davon ließ mich in diese Falle tappen. Ich ziehe den Fuß heraus und fluche noch schlimmer. Eine sichtbar wachsende Beule am Sprunggelenk lässt eine Ausrenkung oder gar einen Bruch befürchten. Die restlichen zehn Schritte zum Bach hüpfe ich auf dem linken Bein und lege mich kurzentschlossen ins eiskalte Wasser. Da bleibe ich circa zehn Sekunden, der rechte Fuß muss es etwas länger aushalten. Es hilft nichts, die Schwellung wächst.

Vorwürfe statt Mitgefühl

Irgendwie schleppe ich mich zum Zelt zurück und zeige Marat die Bescherung. Statt Mitgefühl ernte ich einen Schwall von Vorwürfen, was denn das nun wieder sei und ob ich Pechvogel denn wirklich alle Register des Unglücks ziehen müsse. Erst vorgestern war ich nur mit Müh und Not dem Angriff eines Yak-Bullen entkommen, nachdem ich mich ungefähr eine Stunde lang bäuchlings auf einer ameisenübersäten Weide tot gestellt hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nach und nach versammeln sich die 13 Mitwanderer um uns. Da gibt es nun Mitgefühl reichlich. Angesichts der nächsten drei schweren Wanderetappen über Schotter, einen Gletscher und einen Pass mit steilem Anstieg beschließen wir, dass ich das nicht schaffe und es auch den Pferden nicht zuzumuten ist, zusätzlich zu den schweren Packsäcken auch noch mich zu schleppen. Außerdem muss der Fuß verarztet werden, ein Bruch möglichst sofort. Aber wie? Keine Straße weit und breit. Almaty mit seinen berühmt-berüchtigten Krankenhäusern drei Tagesmärsche entfernt. Reisebegleiter Kairat könnte per Satellitentelefon einen Hubschrauber ordern. Aber wer soll das bezahlen – eine Flugstunde kostet über 2000 Euro. Wir beschließen, dass ich mit dem Pferd zu Bachyts und Ainuras Jurtenlager gebracht werde. Dort könne man dann warten, ob ein Jeep vorbeikommt und mich mit nach Almaty nimmt. Die Chancen sind freilich gering, es ist Donnerstag, und der illegale Wochenendverkehr über die grüne Grenze zum Issyk-Kul beginnt erst am Freitag, die meisten fahren frühestens am Sonntag zurück.

Ein starkes Team

Ich bin enttäuscht, dass ich meine Gruppe verlassen muss, schließlich bin ich die Reiseleiterin. Dennoch bleibt die Gruppe mitnichten verwaist zurück. Corina und Toni sprechen russisch, Marat hat diese Tour oft gemacht und kennt jeden Schritt. Bachyt, sein Sohn Ularbek und dessen Neffe haben die Pferde im Griff, und Ira und Kira kommen in der Küche gut allein klar. Trotzdem mache ich mir Sorgen – und ich bin sauer, dass ich die nächsten Tage der Gletscher- und Passquerung verpassen muss; sie sind der Höhepunkt unserer neuntägigen, sorgfältig geplanten Wanderung zum Hochgebirgssee Issyk-Kul in Kirgisstan.

Nach zwei Stunden kommen wir bei den Jurten an. Mir tut alles weh, eine gute Reiterin bin ich nicht, aber ich bin froh, hier zu sein. Erst gestern hatten wir das Lager verlassen, nachdem die Gruppe nach der ersten Passquerung hier einen Tag lang ungeschminktes Nomadendasein erleben durfte. Bachyt und Ainura stehen mit fragenden Gesichtern da. Sie lachen, als ich sage, ich hätte Sehnsucht nach ihnen gehabt. Doch, mal ganz abgesehen vom Klumpfuß, Sehnsucht hatte ich wirklich. Selten sind mir so liebe und gastfreundliche Menschen begegnet, wie dieses ungleiche Paar. Der kräftige Dorfmensch Bachyt, der schon immer Viehzüchter werden wollte, und die zierliche, mädchenhafte Ainura aus Bischkek, die sich mit 18 nie hätte träumen lassen, dass Stuten melken, schwere Eimer schleppen und eine angeheiratete Großfamilie bekochen und umsorgen einmal ihr Schicksal sein würde. Wenn ich die beiden sehe, vergesse ich Schmerz und Ärger. In der Gästejurte trinken wir Kumys und dann Tee, es gibt Fladenbrot, Schmand und Melonen, und Ainura bringt Manty, die besten, die ich je gegessen habe.

Mit dem Jeep durch die Fluten

Ich muss warten, bis zufällig ein Auto in Richtung Almaty diesen idyllischen Krähwinkel im Tal des Tschong Kemin passiert. Das Wunder geschieht, und zwar schon nach einer halben Stunde. Ich verabschiede mich hastig, und nehme auf dem Vordersitz Platz. Die beiden Männer, der schmale kasachische Fahrer Tagyr und der sportlich aussehende Russe Alexander, sind sehr gesprächig, mir lockert die Erleichterung auch die Zunge, und die fast zwei Stunden bis zum Almaty-Fluss vergehen wie im Flug. Dann stehen wir ratlos an der Furt. Noch nie habe ich den sonst relativ seichten Fluss so aufgewühlt gesehen; er führt mehr als doppelt so viel Wasser wie gewöhnlich. Tagyr möchte nicht durchfahren, er hat Angst, dass der Motor absäuft. Ich befürchte, dass das Auto abtreibt, habe wirklich keine Lust auf ein weiteres Unglück. Alexander nimmt es scheinbar leicht, mit voller Geschwindigkeit und Allradantrieb werde man es schon schaffen. Wir wägen kurz ab – eine Nacht ohne Zelt hier am Fluss und dann morgen bei Tagesanbruch und Niedrigwasser weiter? Oder alles riskieren? Tagyr wirft den Motor an und fährt vorsichtig ins gelbbraune, trübe Wasser. In der Flussmitte ruckelt der Wagen kurz und droht, vom Grund abzuheben. Das Wasser reicht bis zur Mitte der Türen. Tagyr schaltet hoch und hat nach Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, Grund unter den Vorderrädern. Dann sind wir drüben. Ich haue Tagyr schwer erleichtert auf die Schulter. Alexander, plötzlich blass, sagt nur: “Ein Ass!” und grinst, irgendwie entschuldigend.

Ein Schmerzmittel nach Wahl

Die weitere Fahrt verläuft schweigsam. Zu Hause angekommen rufe ich Rustam an, “meinen” aserbaidschanischen Lieblingstaxifahrer, Tag und Nacht im Dienst. Er bringt mich in das 12. städtische Krankenhaus, das angeblich die beste Unfallabteilung hat. Nach langer Fragerei finde ich, mühsam humpelnd, endlich die Notaufnahme. Eine lange Schlage steht davor – jawohl, ungeachtet diverser Verletzungen – die Patienten warten stehend. Nach über einer Stunde bin ich an der Reihe. Die Unfreundlichkeit des Aufnahmearztes schwindet etwas, als er meinen deutschen Pass sieht. Geröntgt wird schnell und ohne Bleischürze. Na gut, meine Familienplanung ist ja abgeschlossen … Als ich endlich das „Kabinett vorn rechts” gefunden habe, darf ich mir das Schmerzmittel aussuchen, weil die nette junge Schwester nicht lesen kann, was der Arzt verordnet hat. Mit den Röntgenbildern humpele ich wieder zur Notaufnahme. „Kein Bruch!” befindet der Arzt ruhig. Zwei Wochen keinerlei Wanderungen, befiehlt er. Möglichst gar nicht laufen. Und ich solle mir in der zentralen Apotheke eine feste Bandage kaufen, das Krankenhaus habe so etwas leider nicht.

Was ich denn schuldig sei, möchte ich ungeschickt wissen. Räuspern. Stille. Tja, man sei als städtisches Krankenhaus zur kostenlosen Notaufnahme und Behandlung verpflichtet, aber ich wisse ja sicher, wie der Stand der Dinge sei. Weiß ich. Bescheiden ist er. Ein Arzt verdient kaum mehr als 250 Dollar im Monat, die Versorgung der Krankenhäuser ist, wie an diesem (relativ guten!) Beispiel ersichtlich, katastrophal. Ich zücke einen 50-Euro-Schein. Hektisches Abwinken, dann ein Fingerzeig nach links oben über der Tür. Ohhhh… Eine Überwachungskamera. Der Arzt öffnet grinsend eine Schublade seines Schreibtisches. Unauffällig gleitet der Schein hinein. Ich bedanke mich, er bedankt sich, lächelt. Draußen bin ich, atme durch.

Ich rufe Rustam an, der kommt mit dem Taxi und fährt mich nach Hause. Was für ein Tag. Auf dem Balkon, den Fuß in einem Eimer mit kaltem Wasser badend, trinke ich ein kühles Bier und rauche eine von den starken “Kazakhstan Filtr”. Das Bier und die Ketonal-Spritze scheinen sich nicht zu vertragen, ich rappele mich auf und hinke ins Bett.

Am nächsten Tag wasche ich voller Wehmut die Trekkingklamotten und fasse plötzlich den Entschluss, meine Gruppe nach der Überquerung des Tienschan abzuholen und mit den Wanderern noch zwei ruhige Tage am Issyk-Kul zu verbringen. Bis dahin bleibt mir aber noch viel Zeit. Fast bin ich dem Murmeltier dankbar. Wäre ich nicht in sein Loch getreten, wäre ich nicht hier. Fast niemand weiß, dass ich hier und nicht auf der Tour bin, keiner ruft an und droht mit Arbeit…

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Zentrale des Zentrums für Ökotourismus: Ecotourism Information Ressource Center, Almaty, Scheltoksan-Str. 71 / Ecke Gogol-Str., Tel.: +7 (727) 2 78 02 89, Fax: +7 (727) 2 79 81 46, e-mail: ecotourism.kz@mail.kz, web-site: www.eco-tourism.kz
Öffnungszeiten: Mo-Fr 09.00 – 18.00 Uhr
Dagmar Schreiber unterstützt hier im Auftrag des deutschen Centrums für internationale Migration und Entwicklung (CIM) den Aufbau von Ökotourismus-Angeboten.
Reisetipp: Für die nächste von Dagmar Schreiber geführte Tour von Almaty zum Issyk-Kul Ende Juli 2009 gibt es noch freie Plätze.
Allgemeine Reiseinformationen: Ende Oktober 2008 ist die 3. Auflage von Dagmar Schreibers Reiseführer „Kasachstan entdecken“ erschienen.

Von Dagmar Schreiber

20/03/09

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