Weihnachten ohne Tannenbaum, Geschenke und Gans – heute kaum vorstellbar, für die meisten Deutschen in Kasachstan lange Zeit Realität. Ein schlichter Zweig ersetzte da schon mal den Tannenbaum und leere Bonbonverpackungen den Schmuck. Dennoch blieb das Fest der Liebe vor allem für die Kinder immer etwas ganz Besonderes.

/Bild: Irina Peter. ‚Neujahrsfest im Club des Dorfes, Anfang 1970er: „Der Christbaum ist der schönste Baum, den wir auf Erden kennen“’/

Emma rupft ein Huhn. Seit drei Tagen hilft die Zehnjährige ihrer Mutter beim Schlachten, Einkochen und Packen. Am Dienstag hieß es: In einer Woche müssen alle Deutschen nach Kasachstan. Emma weiß nicht, wo das sein soll. Sie kennt nur Gottliebsdorf. Hier geht sie zur Schule und klaut Nachbars Äpfel. Und sie kennt Horschtschik. Dort lebten sie bei Oma und Opa in einem Haus mit großem Obstgarten voller Birnen und gelber Pomeranzen. Papa ist mit Onkel Nathan vor ein paar Wochen von russisch sprechenden Männern in Uniform abgeholt worden. Oma und Opa sind tot. Wenn sie ihre Mama fragt, warum sie jetzt weg müssen und wo dieses Kasachstan sein soll, gibt diese nur weitere Arbeitsanweisungen.

Heiligabend im Nirgendwo der nordkasachischen Steppe

Jetzt sind sie schon seit drei Wochen zusammen mit Nachbarn und Verwandten in einem langen Zug aus aneinander gereihten Viehwaggons unterwegs. Manchmal hält er tagelang, dann fährt er wieder lange Zeit, ohne stehen zu bleiben. Im Zug wird gekocht und Wäsche gewaschen. Nach einem Monat kommen sie mitten im Nirgendwo der nordkasachischen Steppe an. Nirgendwo trägt den Namen „Dorf Nr. 28“, hier sollen die Deutschen aus der Ukraine bleiben. 20 Jahre lang, bis 1956, wird kein Deutscher den „Achtundzwanzigsten“ ohne offizielle Genehmigung verlassen. Doch das wissen zu diesem Zeitpunkt weder Emmas Mutter noch Stiefvater Malas. In ihrem leichten Sommerkleid steht Emma vor einer halb in die Erde gegrabenen Lehmbaracke ohne Dach. Es ist schon später Herbst, ein frostiger Wind kündigt den ersten Schnee an.

Für das Vieh, das in einem Sonderwaggon mitfuhr, bauen sie Hütten aus Erdstücken. Auf die Schnelle zusammen gesammeltes Stroh dient den Lehmbaracken als Dach. Die Hütte, in der Emma mit Schwester Neta, Baby Erna, Mama und Stiefvater Malas nun leben, ist zehn Quadratmeter groß. Als zwei Monate später ein heftiger Schneesturm, der Buran, tobt, ist ans Rausgehen nicht zu denken. Es ist Heiligabend, aber es gibt weder einen Weihnachtsbaum, noch einen Gottesdienst, es gibt auch keine Geschenke, und wenn die Kinder an einen saftigen Braten denken, knurrt ihnen der Magen. Aber sie wissen, dass Weihnachten ist, und feiern trotzdem. Stiefvater Malas liest die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vor. Neta und Emma sagen ein Gedicht auf, das dieses Jahr leider nicht mit einem Pfefferkuchen wie sonst an Weihnachen belohnt werden kann. Die Stimmen, die „Oh du fröhliche“ singen, hört man beim Toben des Schneesturms von draußen nicht. Drinnen sind sie um so lauter und prägen sich für immer in Emmas Gedächtnis ein.

Der Zweig aus dem verschneiten Park dient als Tannenbaum

30 Jahre später sind aus den unwirtlichen Lehmbaracken ordentlich geweißelte Häuser geworden. Am 24. Dezember 1966 weht kein Sturm, die Sonne scheint hell auf den weißen Schnee. „Der Christbaum ist der schönste Baum, den wir auf Erden kennen. Im Garten klein im engsten Raum, wie lieblich blüht der Wunderbaum, wenn seine Lichter brennen…“, singt Sina während sie aus der Sommerküche, die im Winter als begehbarer Kühlschrank dient, den bis an den Rand mit Pelmeni gefüllten Emailleeimer holt. Heute ist Heiligabend, und es gibt zu den Pelmeni auch eine aus frischem Schweinefleisch, Speck und Buchweizengrütze gemachte Blutwurst, die süßlich schmeckt, wenn man sie brät. In der Küche duftet es köstlich nach Riebelkuchen – einem Streuselkuchen aus Hefeteig, den Sinas Mutter jedes Jahr an Weihnachten backt. Sinas Vater hat einen Zweig aus dem verschneiten Park mitgebracht, der als Tannenbaum dient. Sie schmücken ihn mit in buntes Papier gewickelten Bonbons und „Kuchelchens“ – runden, mit Zucker bestreuten Hefeplätzchen. Spätestens am Abend des zweiten Weihnachtstages, das wissen Sina und ihre Geschwister, werden an Stelle der Bonbons Brotklumpen oder Papier in den bunten Papierchen stecken. Von den Kuchelchens wird wahrscheinlich schon morgen nur noch der weiße Faden bleiben, an dem sie hängen.

„Der Pelzebock, der Pelzebock geht um“

Nach dem gemeinsamen Essen gehen Sina, ihre Eltern, Geschwister, Nachbarn und Verwandte zu den Langes – zum gemeinsamen Weihnachtsgottesdienst. Letztes Jahr waren sie bei den Pudels, aber da reicht der Platz nicht mehr. Auf dem „Achtundzwanzigsten“ gibt es kaum Katholiken, die meisten sind evangelisch-lutherischen Glaubens. Onkel Lenhard Matt führt den Gottesdienst und liest auf Deutsch aus einer alten in dunklem Leder gebundenen Bibel die Geschichte vom Christkind vor. Im Anschluss singen alle.

Weil keine Gesangbücher da sind, gibt Onkel Selinger jedes mal die Strophe vor, die anschließend von der feiernden Gemeinschaft nachgesungen wird. Wieder zu Hause, klopft es plötzlich an der Tür. „Der Pelzebock, der Pelzebock geht um“, schreit Sinas großer Bruder Paul und versteckt sich unterm Tisch. Alle Kinder suchen sich einen Platz, wo der rußbeschmierte Pelzebock in seinem Schafspelz sie nicht findet. Laut und Furcht einflößend klingt das Metall der Kette, die er auf den Boden schlägt. Mit seiner Rute droht er den Kindern.

Weil Paul jedoch weiß, dass in dem Leinensack an Pelzebocks Gürtel Süßigkeiten stecken, traut er sich raus, sagt brav ein Gedicht auf und wird mit einem Pfefferkuchen belohnt. Die anfängliche Angst verfliegt, und die Schwestern Sina und Erna folgen seinem Beispiel. Am Ende ist Pelzebocks Geschenkesack etwas leerer. Er zieht zum nächsten Haus, um die braven Kinder zu belohnen und die nicht braven zu bestrafen.

Zum Glück fällt Weihnachten dieses Jahr auf ein Wochenende, so muss niemand morgen und übermorgen zur Arbeit. An beiden Weihnachtsfeiertagen kommen viele Gäste, Onkel, Tanten und Nachbarn in das Haus von Sinas Eltern. Abends bleiben sie lange, es wird gesungen und oft von „Wolienchen“ erzählt. Sina weiß nicht genau, wo das sein soll, und weil die Erwachsenen oft traurig klingen, wenn sie über ihr „Wolienchen“ sprechen, stellt sich Sina „Wolienchen“ als einen Ort vor, wo die Kinder nicht mal einen Zweig an Weihnachten haben. Später erfährt sie, das Wolhynien die Region in der Ukraine ist, aus der ihre Eltern 1936 vertrieben wurden.

Der sowjetische Sozialismus vertrieb auch Weihnachten aus den warmen Stuben des „Achtundzwanzigsten“. Ende der 1980er feierten kaum noch Deutsche in Kasachstan Weihnachten. Die vernachlässigten Bräuche nahmen sie erst nach dem Mauerfall und ihrer Ausreise nach Deutschland wieder auf. Emma singt nun in ihrer Kirchengemeinde in Norddeutschland „Oh du fröhliche“ und vom „Achtundzwanzigsten“ ist heute ebenso viel geblieben wie 1936 vorhanden war – einsame Lehmbaracken ohne Dach und ohne Menschen.

Von Irina Peter

25/12/09

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