Philipp Meuser ist Architekt, Autor und Verleger in Berlin. Zahlreiche Bauprojekte und Reisen haben ihn in den vergangenen Jahren nach Zentralasien geführt. In seinen Büchern beschreibt Meuser Aspekte der Architektur und Baugeschichte dieser Weltregion, insbesondere in Kasachstan. Seit vielen Jahren verfolgt Meuser mit großer Aufmerksamkeit den Ausbau der kasachischen Hauptstadt zur Expo-Metropole „Astana 2017“. Unser Autor Holger Lühmann hat Philipp Meuser zu einem Gespräch über die architektonische Entwicklung der kasachischen Hauptstadt in seinem Berliner Büro getroffen.

Astana ist in diesem Jahr Gastgeber der Expo. Dies feiert die Stadt vor allem mit atemberaubenden Neubauten, nicht nur auf dem Expo-Gelände. Was genau macht diese Stadt in baukultureller Hinsicht so interessant und besonders?

In Astana ist in den vergangenen Jahren etwas völlig Neues entstanden, und zwar der Stadttypus der Eurasischen Stadt. Das beobachte ich seit rund zehn Jahren. Und mir fällt dabei auf, dass den Leuten vor Ort diese Entwicklung gar nicht bewusst ist. Sie bauen einfach eine neue Stadt in der Steppe und orientieren sich dabei an Vorbildern, zum Beispiel an Mega-Citys in China, Europa oder den Emiraten. Ich habe die Gründe dafür immer wieder versucht mit Architekten vor Ort zu diskutieren. Und wenn ich denen sage, „Ihr baut euch doch da den Prototyp einer eurasischen Stadt“, dann staunen immer alle mit großen Augen und Ohren und freuen sich, dass jemand aus dem Ausland ihnen das sagt, weil sie dies eben selbst noch nicht als so außergewöhnlich wahrgenommen haben.

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Als „Kohlkopf“ bezeichnetes Konzerthaus aus der Feder des Architekten Manfredi Nicoletti
Als „Kohlkopf“ bezeichnetes Konzerthaus aus der Feder des Architekten Manfredi Nicoletti | Foto: Holger Lühmann

Was meinen Sie genau mit dem Terminus „Prototyp einer eurasischen Stadt“?

Es handelt sich dabei um eine ganze Reihe von Städten, die in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren umgebaut wurden oder neu entstanden sind. Sie haben eine sowjetische Vergangenheit, sind aber durch die neue Rolle als Hauptstädte oder regionale Zentren überformt worden von postsowjetischen oder turbokapitalistischen Mechanismen. Das ist natürlich etwas Prozessartiges, was man nicht in der Zeit selber sehen kann, sondern erst mit einem Abstand von mehreren Jahren. Und dieser Abstand ist ja jetzt nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991/1992 entstanden. Jetzt ist die Entwicklung sichtbar.

Was macht eine typisch eurasische Stadt aus?

Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sehr stark auf Autoverkehr ausgerichtet ist; und dass es – wie in vielen amerikanischen Städten auch – überall neue Shopping-Center gibt. Sie hat aber auch von der Sowjetunion eine Wohnungsbauweise vererbt bekommen, die mit ihren immer noch zwölf- bis zwanziggeschossigen Wohnblocks oft langweiliger wirkt als in der damaligen Sowjetzeit. Das finden Sie überall, im Westen angefangen in Minsk oder Charkow bis nach Sibirien und Zentralasien.

Kommen wir zurück auf Astana. Warum ist der Prototyp-Charakter vor allem dort so sehr nachvollziehbar?

Astana ist für mich der Prototyp der eurasischen Stadt, weil die dort zuvor bestehende Siedlung unter den Namen Akmolinsk (1830-1961, Anm. HL) bzw. Zelinograd (1961-1991, Anm. HL) mit nur 150.000 Einwohnern völlig überformt wurde. Auf der südlichen Seite der Stadt ist eine Erweiterung entstanden, durch die Astana innerhalb von 20 Jahren rasant gewachsen ist. Innerhalb eines Zeitraums von weniger als einer Generation hatte die Stadt plötzlich eine Million Einwohner. Und da stellt sich natürlich die Frage, was für die um das Fünffache angewachsene Bevölkerungszahl gebaut werden muss. Das fängt bei Schulen an und geht über Krankenhäuser und Wohnbauten bis hin zu Verwaltungsgebäuden und vielem mehr.

Wie kann eine ursprünglich nomadische Kultur so ein architektonisches Mammutprojekt umsetzen, das heißt konkret: Welcher historischen Bezüge bedient man sich dabei, wenn die Wohnkultur jahrhundertelang vor allem vom Leben im Zelt geprägt war?

Das ist in der Tat eine zentrale Frage. Nomadische Kulturen hinterlassen ihren Nachfahren eigentlich nur zwei Arten von Bauwerken, nämlich Grabmäler und Sakralbauten. Eine typisch kasachische Stadt gab es also nie. Urbanes Leben wie wir es zum Beispiel in Europa kennen, ist erst nach Kasachstan gekommen, als das Russische Imperium im 19. Jahrhundert hier Militärposten errichtet hat. Und so ist auch der Vorläufer von Astana entstanden, das war ursprünglich ein Militärlager, so wie sie auch an vielen anderen Orten im Norden Kasachstans gebaut wurden. Im Süden dagegen gibt es vor allem vom Orient geprägte Stadtkulturen, die dann allerdings sehr alt sind, oftmals zwei- bis dreitausend Jahre.

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Woran hat sich Kasachstan dann beim Ausbau seiner Hauptstadt orientiert, an der russischen Bauweise oder an der antiken wie sie im Süden des Landes zu finden ist?

Khan Shatyr, Einkaufszentrum in Gestalt eines Zeltes.
Khan Shatyr, Einkaufszentrum in Gestalt eines Zeltes. | Foto: Holger Lühmann

Bei der Planung hat man sich weniger mit der Frage beschäftigt, wie man eine Stadt baut, sondern eher, wie man sie dekoriert. Denn wenn ich heute durch Astana gehe, habe ich das Gefühl, ich laufe durch eine Art Disneyland. Es gibt da viele Gebäude, die einen sehr narrativen Charakter haben. Als Beobachter erkennen Sie da zum Beispiel, dass manche Gebäude der Gestalt eines Nomadenzelts nachempfunden sind, so etwa beim Khan Shatyr, einem großen Einkaufszentrum in Astana. An anderen Gebäuden erkennen Sie bei näherer Betrachtung Ornamente wie in der Textil- und Teppichkunst. Und diese dekorativen Elemente werden mit modernen Materialien und Konstruktionsformen realisiert und dargestellt. Die Dekoration ist als Referenz auf die Textilkunst der früheren Nomadentradition zu verstehen. Dabei ist also etwas sehr Eigenständiges entstanden, aber immer noch geprägt von dekorativem Stil. Der Neubau von Astana hat daher keine neuen Bautypologien hervorgebracht, von denen man sagen könnte, dies und das wäre typisch kasachisch. Vielmehr findet man zu den meisten Gebäuden der Hauptstadt immer wieder ein Äquivalent in den Baukulturen anderswo auf der Welt.

…zum Beispiel beim sogenannten Weißen Haus in Astana…

Weißes Haus, Amtssitz des Präsidenten
Weißes Haus, Amtssitz des Präsidenten | Foto: Holger Lühmann

Genau. Das Weiße Haus, also der Amtssitz des Präsidenten, ist von der ganzen Anlage her ganz klar eine Bezugnahme auf das Weiße Haus in Washington. Und so finden Sie überall Gebäude wie Theater oder Museen, die ganz eigenwillige Formen haben. Viele von ihnen erhalten übrigens sehr interessante Kosenamen durch die Bevölkerung. Da gibt es zum Beispiel die berühmte Konzerthalle des italienischen Architekten Manfredi Nicoletti, die im Volksmund Kohlkopf genannt wird, weil das Gebäude schalenartig von mehreren Fassaden ummantelt ist. Für uns in Europa ist diese Entwicklung zum Teil sehr schwierig einzuordnen, weil wir mit der Theorie aufwachsen, dass neue Architektur nur auf der alten aufgebaut werden kann. Wir haben da so einen Evolutionsgedanken in der Architektur, den es in Kasachstan wegen der kurzen Bautradition nicht geben kann. In Astana ist einfach innerhalb von wenigen Jahren viel Neues entstanden, wie mit einem Fingerschnipsen. Das ist eine großartige Leistung, das muss man anerkennen, allerdings gilt zu bedenken, dass so eine bauliche Herausforderung nur zu meistern war, weil eine klare politische Führung herrscht.

Was ist architektonisch von der Expo zu erwarten?

Ich glaube, dass die Expo mehr für Kasachstan bringt, als dass Impulse von Astana in die Welt ausgehen. Die Bewerbung für die Ausrichtung der Expo war natürlich eine politische Entscheidung, die nicht zufällig mit dem 20. Geburtstag der Hauptstadt zusammenfällt. Und dennoch, trotz der Vorbereitung auf dieses Ereignis, gibt es in städtebaulicher Hinsicht viel Nachholbedarf. Das ist besonders beim Stadtverkehr zu beobachten. Man hat es beim Ausbau der Stadt zur Mega-City versäumt, adäquate Verkehrskonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Im öffentlichen Nahverkehr dominiert vor allem der Stadtbus, der nicht nur zur Rush-Hour oft im Stau steht.

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Was sollte hier reformiert werden?

Der Bau einer Metro-Linie ist längst überfällig und das hätte man zur Expo durchaus nachrüsten können. Aber hier sind Chancen verpasst worden. Denn wenn eine Stadt Gastgeber der Expo 2017 ist, zumal unter dem Motto „Future Energy“ wäre auch ein entsprechendes Verkehrskonzept wünschenswert, das der Entwicklung und dem Lebensstandard im 21. Jahrhundert gerecht wird.

Herr Meuser, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Holger Lühmann.

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