Ashot Danielyan ist Linguist, Japanisch-Dolmetscher und dem Taschkenter Publikum vor allem als Sänger der Gruppe „Крылья Оригами“ („Origami Wings“) bekannt. In letzter Zeit steht er jedoch immer häufiger auch mit seinen eigenen Gedichten auf der Bühne – und sicherte sich mit seiner Performance beim Poetry Slam im Goethe-Institut Taschkent im Januar den ersten Preis. Lisa Höhn und Annkatrin Müller haben mit Ashot über seinen Weg zur Poesie, die aktuelle Entwicklung der poetischen Szene in Taschkent und seine Ratschläge an junge Poetinnen und Poeten gesprochen.

Ashot, wie kamst du zur Poesie? Wann hast du angefangen, selbst Gedichte zu schreiben?

Poesie ist eine Form des menschlichen Leidens – das wurde mir schon in meiner Kindheit bewusst. Mein erstes Gedicht habe ich mit sechs Jahren über ein Maschinengewehr geschrieben. Ich erinnere mich sogar noch daran: „Das Maschinengewehr war sehr klein und schoss mit Nudeln.“ Mit diesem Maschinengewehr begann ich meine Dichtungen. Ich versammelte meine ganze Familie, stellte mich auf einen Stuhl und las es vor. Ich denke, all die kreativen Gedanken, die wir heute haben, nehmen wir aus unserer Kindheit. Diese Freude am Schaffen, am Entdecken, am Spiel mit Worten, wie man alles zusammensetzen kann – das alles kommt aus der Kindheit.

Nimmst du dir bewusst Zeit, um ein Gedicht zu schreiben? Oder kommen die Inspirationen und Ideen eher zufällig?

Sobald ich mir vornehme, Gedichte zu schreiben, kommt nur Mist dabei heraus. Gleichzeitig ist Dichten Arbeit. „Wenn du nur wüsstest, aus welchem Müll Gedichte geschrieben werden…“, sagte einmal eine russische Schriftstellerin. Natürlich muss ich arbeiten – ich habe ein Notizbuch, in dem ich Wörter sammle, die mir gefallen. Es gibt so viele Wörter, die im Alltag nicht benutzt werden – zum Beispiel das Wort „Apartheit“. Ich habe einen Song geschrieben, „Apartheid of the soul“. Als ich das Wort zum ersten Mal gehört habe, wusste ich, dass daraus ein Gedicht entstehen würde.

Einmal sah ich im Discovery Channel eine Sendung über Meerestiere. Dort gab es diese Geschichte über den Oktopus – darüber, wie er jagt und lebt. Sie erzählten dort, dass der Oktopus drei Herzen hat – das fand ich sehr poetisch. Was wäre, wenn ich drei Herzen hätte? Also habe ich darüber ein Gedicht geschrieben. Ich denke, man kann Gedichte nicht vorsätzlich schreiben, aber man kann daran arbeiten. Man kann ja auch nicht vorsätzlich lieben, aber man kann es fühlen. Einer meiner liebsten japanischen Dichter soll einmal zu seinen Schülern gesagt haben: „Die wichtigste Regel beim Schreiben von Gedichten ist, nie zu denken, dass man gerade ein Gedicht schreibt.“

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Zurzeit finden in Taschkent zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Poesie statt. Erleben wir in Usbekistan gerade einen Poesie-Boom?

Ja, absolut! Das ist eine sehr interessante Entwicklung. Ich persönlich sehe mich nicht als Dichter – ich bin Rockmusiker. Ich habe früher nie Gedichte vorgetragen, nur ab und zu bei kleineren Veranstaltungen. Doch auf einmal hat sich etwas verändert. Livemusik, Comedy – all diese Formate kennen die Menschen bereits. Die Menschen sind jetzt hungrig nach Worten, nach etwas, das sie zum Denken anregt. Sie haben Poesie vergessen, aber können eigentlich nicht ohne sie leben, ohne die Schönheit des Wortes. Das liegt in der Natur des Menschen: Sie brauchen Kunst.

In den 60er, 70er und 80er Jahren war Poesie hier sehr populär. Damals hatten Dichter*innen Auftritte wie Rockbands und die Menschen kannten Gedichte auswendig. Die Generation meines Vaters war von Poesie besessen. Das Besondere an Poesie ist, dass sie eine geheime Sprache spricht, die sehr viel näher am Menschen ist als Wissenschaft. Deswegen brauchen die Menschen Poesie. Die Menschen hier haben sich lange auf der Unabhängigkeit und Demokratisierung des Landes ausgeruht, sie haben die Poesie und Kunst vergessen.

Für mich persönlich begann dieser Poesie-Boom vor einem Jahr an einem Abend, den eine usbekische Zeitschrift für Poesie organisierte, „Der Stern des Orients“. Ich wurde eingeladen und präsentierte meine Gedichte auf meine persönliche Art – und ich sah, wie viel Freude das den Leuten bereitete. Anschließend wurde ich zum Poetry Slam des Goethe-Instituts eingeladen. Dort erlebte ich das Gleiche: Die Menschen schienen aufzuwachen, allein wegen der Worte. Danach gestaltete ich meinen ersten eigenen Poesie-Abend, „Человек с табуреткой“ („Ein Mensch auf einem Stuhl“) – eine Mischung aus Performance, Musik und Poesie. Seitdem wurde es immer größer und größer.

Bald werde ich meine Show auf einer großen Bühne zeigen, im Palast der Jugend. Ich mache jetzt schon seit 18 Jahren Musik und noch nie hat mich jemand eingeladen, auf dieser Bühne zu spielen! Daher: Ja, ich würde sagen, dass Poesie heutzutage einen Aufschwung erlebt, und ich freue mich, Teil dieser Entwicklung zu sein. Ich kann die Sehnsucht in den Augen der Menschen sehen, wie sie durch die Gedichte aufwachen. Ich würde sagen, es ist eine neue Welle, aber nichts Neues. Poesie war immer ein Teil ihrer Persönlichkeit.

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Hat das deiner Meinung nach etwas mit den aktuellen politischen Veränderungen in Usbekistan zu tun?

Ja, natürlich. Der neue Präsident ist sehr viel liberaler als unser vorheriger. Wir können jetzt mit meiner Band Open-Air-Konzerte geben. Und vor kurzem war unser Musikvideo zum ersten Mal im usbekischen Fernsehen – sogar ohne unsere Erlaubnis [lacht]. Ich weiß nicht, ob das nur positiv für die Poesie ist – wenn wir zum Anfang des Interviews zurückschauen –, denn Poesie ist immer auch eine Form des menschlichen Leidens. Man kann keine guten Gedichte schreiben, wenn alles gut ist. Es gibt immer auch eine dunkle Seite von Poesie.

Andererseits kann man natürlich nichts Künstlerisches schaffen, wenn man nicht die nötige Atmosphäre und Grundlage dafür hat: Ein guter künstlerischer Raum und die Menschen, eine Gemeinschaft von Poet*innen und Musiker*innen – ansonsten kämpft man alleine gegen die ganze Welt. Man muss einander hassen und lieben, sich gegenseitig kritisieren, das ist gut! Ich bin sehr zufrieden mit der Entwicklung von Poesie hier.

Was für eine Rolle kann ein Poetry Slam wie im Goethe-Institut in diesem Kontext spielen?

Ich denke, der Poetry Slam ist ein guter „Appetizer” – ein guter Ausgangspunkt, um etwas Größeres zu kreieren. Ein Wettbewerb ist immer spannend, weil man das Gefühl hat, mit Gleichgesonnenen in einem Boxring zu stehen. Man kann vergleichen, was man macht, sehen, ob man gut ist, und andere interessierte Menschen treffen. Das Problem der kreativen Communities in Taschkent ist, dass sie sehr verschlossen sind – wie Clubs für einzelne, ausgewählte Leute. Das kann manchmal nützlich sein, aber im Allgemeinen ist es schlecht. Es gibt nicht viele Menschen, die sich die Gedichte anderer anhören, es gibt nicht viele Gelegenheiten, sich selbst zu präsentieren – dann weiß man nicht, wer in der gleichen Stadt noch das Gleiche macht.

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Hast du einen Ratschlag für junge Poet*innen oder Teilnehmer*innen eines Poetry Slams?

Ja! Trinkt viel, leidet viel, verliebt euch, denkt viel. Und lest selbst Gedichte, bevor ihr anfangt zu schreiben. Wenn man Poesie nicht versteht und wertschätzt, kann man sie auch nicht selbst praktizieren. Manchmal fragen mich junge Menschen mit ihren Gedichten um Rat. Wenn sie mir ihre Texte geben, sage ich immer: „Ähnelt das den Texten, die du gerne magst, von Schriftsteller*innen, die du selbst liest? Wenn ja, ist es gut. Wenn nicht, kennst du die Antwort.” Es kommt nicht nur auf das Gefühl an. Auch wenn du alles selbst fühlst, macht dich das nicht zum Poeten.

Hast du einen Geheimtipp, wenn es um das Präsentieren der Texte auf der Bühne vor Publikum geht?

Liebt euch selbst. Seid, was ihr selbst auf der Bühne sehen wollt. Man kann einem Gedicht nur mit der Stimme eine ganz andere Bedeutung geben. Manchmal ist die Performance sehr viel besser als das Gedicht! Man sollte gut vorbereitet sein, verstehen, wovon man spricht, die Menschen für sich gewinnen. Ansonsten sollte man nicht auf die Bühne gehen. Es ist wie in einem Kampf. Unter russischen Kriminellen gab es eine Regel: Wenn man in einem Kampf ist und ein Messer zieht, muss Blut fließen. Wenn man auf die Bühne geht, muss Blut fließen!

Das Interview erschien zuerst im Online-Magazin des Goethe-Instituts Taschkent.

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