Die Wirtschaftskrise hat den einst boomenden russischen Bausektor, Arbeitgeber für Hunderttausende von Arbeitsmigranten, schwer erschüttert. Die Entlassungen bringen nicht nur die Zuwanderer und ihre Familien daheim in finanzielle Nöte, sondern auch die zentralasiatische Republik Tadschikistan, der nun die Rücküberweisungen fehlen. Doch es gibt auch Hoffnung auf ein Leben nach der Migration.

/Bild: Henryk Alff. ‚„Auf den Schultern der Frauen liegt die Hauptlast der Probleme“: Merinisso Pirmatowa vor dem IOM-Informationszentrum für Arbeitsmigranten in Duschanbe.’/

Suchrob ist auf dem Weg nach Hause, 98 Stunden Moskau–Duschanbe, laut Fahrplan. Doch dieser wird auch heute, „wie immer“, nicht eingehalten werden. Acht Stunden Schikane bei den korrupten usbekischen Zöllnern sind kein Einzel-, sondern der Normalfall. Um sich das zu ersparen, nimmt er sonst den Flieger, sagt der 32-Jährige. Aber dafür fehle ihm diesmal das Geld.

Schuften auf Russlands Baustellen

Dàs gilt in Zeiten der Wirtschaftskrise für die meisten Passagiere des voll besetzten und mit Gepäck verstopften Zuges. So gut wie alle hier sind „Gastarbaitery“ – das Lehnwort aus dem Deutschen bezeichnet Migranten, die für Niedriglohn auf Russlands Baustellen und Märkten schuften, um ihre Familien in der Heimat zu ernähren. Allein aus Tadschikistan, dem kleinen Gebirgsland zwischen China und Afghanistan, soll es eine Million Männer sein, die regelmäßig auf Arbeitssuche nach Norden aufbricht – ein Achtel der Bevölkerung. Genaue Zahlen kennt niemand.

„Ich wäre gern in Moskau geblieben“, erklärt Suchrob, „meine Registrierung gilt noch bis April.“ Im Winter gebe es in der Heimat nichts zu tun, kein Strom, keine Arbeit. Obendrein komme er mit leeren Händen nach Hause. „Vier Monate lang habe ich kein Gehalt bekommen.“

So wie Suchrob geht es vielen. Die Finanzkrise hat den seit Jahren boomenden russischen Bausektor erfasst. Großbaustellen, wo sonst im Akkord gearbeitet wurde, stehen still. Entlassungen, die zuerst die Zuwanderer treffen, sind die Folge. Schon schüren russische Medien, darunter die renommierte Zeitung „Kommersant“, die Angst vor zunehmender Kriminalität durch die arbeitslosen Migranten.

„Man hat uns versichert, dass wir wieder eingestellt würden, wenn die Dinge besser ständen“, berichtet Suchrobs Abteilnachbar. So hätten sie eben so lange auf ein neues Jobangebot gewartet, bis ihnen nur noch Geld für das Ticket nach Hause blieb. Doch sie wollen nicht jammern: Anderen gehe es ja noch schlechter als ihnen. Allein auf dem Kasaner Bahnhof in Moskau säßen Hunderte Landsleute fest. „Sie haben weder Arbeit noch Geld für die Fahrkarte nach Hause.“

Florierender Drogenhandel

Aus diesen Einzelschicksalen fügt sich ein Bild für das ganze Land zusammen. Und das sieht alles andere als rosig aus. Tadschikistan, schon zu Sowjetzeiten von Moskaus Subventionsspritzen abhängig, ging in den ersten Jahren der Unabhängigkeit in Bürgerkriegswirren unter. Seit 1997 herrscht Frieden, aber das strukturschwache Land, anderthalbmal so groß wie die ehemalige DDR, leidet nach wie vor unter latenter Energieknappheit, rasender Inflation und Unterbeschäftigung.

Die Weltmarktpreise für die beiden wichtigsten Exportgüter Aluminium und Baumwolle, für die zudem 2008 die geringste Ernte seit 20 Jahren eingefahren wurde, sinken oder stagnieren. Der Drogenhandel hingegen floriert – Tadschikistan ist neben Iran Haupttransitland für afghanisches Opium. Über allem steht der autoritär regierende Präsident Emomali Rachmon, der sich als Garant von Frieden und Stabilität präsentiert, aber zum Aufbrechen der desolaten Lage bisher kaum Konstruktives beigetragen hat.

In dieser schwierigen Situation ist die Rolle der „Gastarbaitery“ bei der Unterstützung der tadschikischen Wirtschaft immens: Unterschiedlichen Schätzungen internationaler Organisationen zufolge lag das Aufkommen von Rücküberweisungen der Migranten an ihre Familien bisher zwischen 20 und 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – der höchste Anteil weltweit. Schon im November vergangenen Jahres, so gaben die wichtigsten tadschikischen Banken bekannt, seien die Geldtransfers um 15 bis 20 Prozent gegenüber dem Vormonat gesunken, Tendenz negativ. Eine Katastrophe für das Land und jede betroffene Familie.
„Auf den Schultern der Frauen liegt die Hauptlast der durch die Migration hervorgerufenen Probleme“, sagt Merinisso Pirmatowa vom Informationszentrum der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Duschanbe. Nicht nur die Erziehung der Kinder und die Verrichtung der meisten Aufgaben im Haushalt – in der traditionellen Gesellschaft Tadschikistans klassische Tätigkeiten junger Ehefrauen – obliegt ihnen. Auch schwere körperliche Feldarbeit und bisweilen zusätzlich Lohnarbeit fallen auf sie zurück. Die Rückkehr der Männer, für die es auf dem tadschikischen Arbeitsmarkt keine Verwendung gebe, dürfte, so Pirmatowa, nur bedingt zu einer Verbesserung ihrer Lage beitragen.

Trotz allem sehen viele tadschikische Frauen der Zukunft mit gedämpftem Optimismus entgegen. Für Anora, Mutter von zwei kleinen Kindern, deren Ehemann nach einem dreimonatigen Aufenthalt in Sankt Petersburg mit einer gebrochenen Schulter und einem Berg Schulden heimkam, ist einzig die Familienzusammenführung von Bedeutung: „Ich möchte nicht mehr, dass mein Mann weggeht“, sagt die 21-Jährige und schaut aus dem Fenster, wo sich Mitte Januar zwischen grauen Plattenbauten bereits Vorfrühlingsstimmung breitmacht. Im Ausland zu arbeiten, sei zu gefährlich, und Arbeit gebe es dort auch nicht mehr. „Er repariert hier jetzt alte Heizkörper. Der Lohn ist schlecht, aber dafür können wir zusammenbleiben.“

Tadschiken sind Überlebenskünstler

Wer zurückgekehrt ist und bis zum Frühling in der Heimat keine Geld einbringende Beschäftigung gefunden hat, der wird dennoch wieder nach Russland gehen. „Wenn nicht auf dem Bau, dann wird man in anderen Branchen arbeiten“, glaubt indes Dildora, deren Schwiegersohn den Winter über in Moskau bleiben wird. Auch wenn die russische Regierung die Quoten für ausländische Arbeiter senkt, „wird es auch in diesem Jahr Nachfrage nach unseren tüchtigen und anpassungsfähigen Männern geben.“

Dass Tadschiken Überlebenskünstler sind, mussten sie angesichts anhaltenden wirtschaftlichen Niedergangs, Arbeitslosigkeit, Stromausfällen und unbeheizten Wohnungen nicht erst in diesem Winter unter Beweis stellen. Für viele Einwohner, die seit dem Bürgerkrieg nichts mehr als politische Unruhen fürchten, bedeutet die Wirtschaftskrise – ob in der Fremde oder zu Hause – keine unüberwindbare Hürde. Für manch einen ehemaligen tadschikischen Gastarbeiter kann sie gar – wie für Anoras Ehemann – einen Anlass bedeuten, in der Heimat sein Glück zu versuchen. (n-ost)

Von Henryk Alff und Weronika Zmiejewski

30/01/09

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