Viele Russlanddeutsche haben Kasachstan Anfang der 90er verlassen und fühlen sich, in Deutschland angekommen, zu Hause. Doch wie ist es das Geburtsland nach über 20 Jahren wieder zu besuchen? Wie hat sich das Land seitdem verändert?

Es ist ein Land, das ich aus Erzählungen, Schwarzweißfotos und verschwommenen Erinnerungen kenne. Kasachstan klingt – wenn meine Familie nostalgisch wird – nach ewigen Gebirgszügen, reißenden Flüssen und saftigen Riesenäpfeln. An schlechteren Tagen wird Kasachstan mit heruntergekommenen Häusern, extremer Hitze und absolutem Chaos nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verbunden.

Auch wenn ich Deutschland als mein Heimatland sehe, bin ich natürlich für immer mit meinem Geburtsort Taldykurgan verbunden – in meinem Pass ist er eingetragen und auch in Vorstellungsgesprächen ist er immer ein Thema. Meine Vorfahren wurden als deutsche Minderheit 1941 aus Georgien und der Ukraine nach Karaganda deportiert. Von dort aus zogen sie in den fruchtbaren Südosten des Landes weiter und ließen sich in Taldykurgan und der 30 Kilometer m entfernten Kleinstadt Tekeli nieder. Damals lebten 800.000 Russlanddeutsche in Kasachstan. Als ich dreieinhalb war, wanderte meine Familie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland aus.

Dass ich Südostkasachstan einmal besuchen wollte, war immer ein großer Wunsch von mir – dass ich es tatsächlich einmal tue, war eher ein Zufall. Durch ein Medienprojekt war ich eine Woche in Almaty, der ehemaligen Hauptstadt Kasachstans, und entschloss mich danach, meinen von da aus 250 km entfernten Geburtsort Taldy Kurgan zu besuchen.

Freunde finden mich mutig, meine Familie findet mich verrückt. Was ich da sehen will, ist ihnen nicht ganz klar – schließlich sind sie damals ausgewandert, damit ich und meine Cousinen eine bessere Zukunft hätten.

In Almaty lerne ich, dass ich weder besonders mutig noch besonders verrückt bin: Ich treffe viele Russlanddeutsche, ebenfalls Mitte Zwanzig, die in dem Land geboren sind und jetzt wegen Praktikum, Studiumaustausch oder einer Reise wieder da sind. Teilweise besuchen sie noch dagebliebene Verwandte oder Freunde aus Kindheitstagen. Aber alle treibt die gleiche Motivation wie mich: Einen Teil von sich selber, von der eigenen Familiengeschichte besser kennenlernen.

Nach viereinhalb Stunden Fahrt mit einer Marschrutka durch ewige Steppe komme ich in Taldy Kurgan an. Vom Busbahnhof fahre ich in die Innenstadt – ich wäre fast nicht ausgestiegen, da ich den kleinen Basar nicht als solchen erkannt hätte. Der Arbat ist eine relativ kurze Fußgängerpassage mit sehr kleinen Läden an den Seiten, ich erkenne nichts vom Namen her, der westliche, weltoffene Touch, den man in Almaty spürt, ist hier gänzlich verschwunden.

In Kasachstan habe ich keine Verwandte mehr – selbst alle Bekannte und Freunde meiner Familie leben nicht mehr in dem Land. Nach dem Ende der Sowjetunion ließ der Zusammenbruch großer Betriebe vielen Menschen keinen Grund mehr in Taldy Kurgan zu bleiben. So hatte die Stadt Anfang der 1990er Jahre einen starken Einwohnerzahlrückgang zu verzeichnen – von 120.000 Einwohnern auf 90.000. Im Jahr 2001 machte Kasachstans Präsident Nasarbajew die Stadt zur Hauptstadt des Gebietes, was zu großen Umbaumaßnahmen führte. Es wurden neue Bürogebäude, Geschäfte, Restaurants, Hotels gebaut und viele Straßen neu befestigt. Die Stadt erlebte daraufhin wieder einen starken Zuzug von Menschen. Aktuell leben fast 115.000 Einwohner in der Stadt, davon größtenteils Kasachen.

Nach Erkunden der Innenstadt mache ich mich auf den persönlichsten Teil meiner Reise auf: Meine Mutter hatte mir die Adresse unseres alten Hauses per Skype durchgesagt – aber ob die Straße mittlerweile nicht unbenannt sei, und ob das Haus überhaupt noch steht, könne sie mir nicht versichern. Umso größer mein Erstaunen, als ich beim Aufklappen der Straßenkarte die Straße sofort entdecke. Mit einem Taxi fahre ich in eine kleine Häusersiedlung ein, mit kleinen einstöckigen Häuschen mit Vorgärten – nicht größer als manch eine Datscha. Bei der betreffenden Nummer öffnet eine junge Mutter, die sich als Irina vorstellt, die Tür. Ich erzähle ihr, dass ich vor 22 Jahren hier gewohnt habe – sie weiß sofort Bescheid, „Ah die Deutschen, die damals weggezogen sind.“ Ich darf reinkommen und mir Garten und Haus ansehen. Bilder aus meiner Kindheit tauchen vor meinen Augen auf: Wie ich mit meiner Katze vor dem Tor spielte, wie ich quer durch den Garten zu den gleichaltrigen Nachbarsjungen rannte. Fast ein bisschen geschockt bin ich darüber, dass sich das Sanitätssystem in all den Jahren nicht verändert hat: Ein Plumpsklo befindet sich immer noch draußen, die alte Banja im Garten. Die Einrichtung des Hauses ist natürlich moderner, einiges hat sich an der Außenwand des Hauses geändert. Doch die Straße vor dem Haus sieht fast genauso wild aus, wie auf den über 20 Jahre alten Fotos. Es fühlt sich nach einem vertrauten Stück Vergangenheit an, aber es irritiert mich auch, dass sich gerade dieser Fleck im Gegensatz zum Rest des Landes kaum verändert hat.

Der Besuch macht mich nachdenklich. Was wäre, wenn meine Familie damals nicht gegangen wäre? Ich wäre in diesem kleinen Häuschen aufgewachsen, wäre viel in den Bergen gewesen und hätte wahrscheinlich Russisch besser als Deutsch gesprochen und Kasachisch in der Schule gelernt.

Ich unterhalte mich mit verschiedenen jungen Russlanddeutschen, deren Familien in Kasachstan geblieben sind. Manche sehen ihren deutschen Hintergrund als kaum existent, definieren sich als kasachische Bürger. Andere haben Deutsch von ihren Großeltern mitbekommen und oft aus Interesse deswegen Deutsch studiert und sind mit Austauschprogrammen nach Deutschland für ein Semester oder ein ganzes Studium gegangen. Sie sind quasi auch in das Land ihrer Vorfahren gereist, um die Familiengeschichte besser zu verstehen. Vielleicht ist das auch das Schicksal, wenn man in einer Zwischenkultur, wie der der Russlanddeutschen, aufwäschst –– es bleibt immer ein Teil von einem unerschlossen, es bleibt immer ein Stück in einem anderen Land zurück, bei dem man sich auf die Suche nach sich selbst begeben kann.

Das Land, das ich besucht habe, ist nicht mehr das Kasachstan, das meine Familie vor 22 Jahren verlassen hat. Die Gebirgszüge sind immer noch beeindruckend, doch die saftigen Riesenäpfel sind verschwunden. Taldy Kurgan ist sauber und ordentlich, die Straßen wirken alle neu asphaltiert, die Stadt ist lebendig. Es ist sehr grün, mehrere Parkanlagen sind in der Innenstadt verteilt, und die Luft ist wunderbar frisch. Ein paar alte Sowjetgebäude reihen sich an ein paar neue Bauten. Eine Gegend, die durchaus lebenswert ist. Die Menschen in den Großstädten führen ein Leben auf europäischem Niveau, mit Restaurants und Ausgehkultur, mit Freizeitmöglichkeiten und auch dem Geld dafür. Das Land hat sich verändert in der Zeit, es ist genauso wie ich durch die Pubertät gegangen, hat sich weiterentwickelt und ist erwachsen geworden.

Von Larissa Mass

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