Das Schlangestehen ist eine Kunst für sich und folgt je nach Kultur und Kontext eigenen Regeln. Mit der Übertragbarkeit in andere Kontexte ist das so eine Sache.

In Deutschland sind wir ein bisschen aus der Übung gekommen, was das Schlangestehen angeht. Weil wir einerseits wenig Mangel haben, vieles über Internet erledigen und die Wartesituationen oft geordnet werden, vorzugsweise per Wartemärkchen. Bei der Bank, der Post oder beim Fahrkartenkauf geht es im Regelfall zügig von der Stelle. Dass man stundenlang stocksteif in Reih und Glied hintereinander stehen müsste, ist selten anzutreffen, am ehesten beim Konzertkartenkauf oder in Vergnügungsparks. Das klappt im Großen und Ganzen ganz gut, wenn man mal von kleinen Zickereien absieht. Jedweder Versuch, sich vorzudrängeln, wird sofort geahndet, doch bleibt es meist bei Wortgefechten. Als Gesamtnote vergebe ich: Ganz OK. Eine gute Stilnote gibt es zwar nicht, denn der Deutsche an sich stellt sich etwas mürrisch an. Aber so ist er manchmal, der Deutsche.

Die Meister im sittsamen, geduldigen Schlangestehen sind die Engländer. Das konnte ich zuletzt in London überprüfen. Und nicht nur das. Sogar in klassischen Drängelsituationen, in denen man kleine Rempeleien hinnehmen würde, war kein winziges Däuen und Stupsen festzustellen. Die Leute glitten geschmeidig und unauffällig aus den überfüllten U-Bahnen wie Schlangen. Toll! Wie geht das, kann man das lernen, ist das genetische Veranlagung? Oder haben die Engländer schlicht Berührungsängste? Man weiß es nicht. In jedem Fall gibt’s die Bestnote.

Die Russen bekommen von mir gute Noten für Geduld und Kreativität, wenn es ums Schlangestehen geht (die Drängelsituationen lasse ich hier besser außen vor). Dass ich immer jemanden an den Hacken und im Nacken kleben hatte, bewerte ich nicht ganz so positiv.

Aber der Russe an sich ist eben dickfelliger und weniger berührungsängstlich als ich, und wo es kalt ist, kuschelt man sich eben gern mal aneinander. Für meine landeskundlichen Beobachtungen war der Platz in einer Schlange super, vor allem auf der Post oder wenn ich meine Lohntüte abholen musste, wurde es nie langweilig. Höchst spannend war die Frage, ob man es noch bis zur Pause schaffte dranzukommen. Ich brauchte eine neue Formel, um das auszurechnen. Zum einen braucht man die landestypisch durchschnittliche Abfertigungszeit pro Kunde (in Russland zwischen 10 und 20 Minuten); zum anderen eine Faustformel, um wie viel länger die Schlange ist als sie aussieht (um mindestens ein Viertel), da man in Russland kurz seinen Platz markieren darf, um dann wieder zu verschwinden, um dies und das zu erledigen, um sich dann wieder einzureihen, als wäre man gar nicht weggewesen.
Dieses System hat zuletzt eine Russin nach Deutschland transferiert. Am Postbankschalter schob sich wie aus dem Nichts und mit aller Selbstverständlichkeit eine Frau vor mich. Ich stellte sie mit einem knappen „Hey!“ und strengen Blick zur Rede. Sie warf mir ein knappes „Ich stand hier!“ über die Schulter zurück, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Russischer Akzent. Aha, alles klar. Ich verstand, war aber trotzdem empört. Und überfordert, adäquat mit der Situation umzugehen. Das russische Schlangestehensystem will ich hier nicht haben. Aber welches die richtige Haltung und Wortwahl ist, um damit umzugehen, weiß ich noch nicht. Ich werde das Ergebnis in einigen Tagen, Wochen oder Monaten präsentieren.

Julia Siebert

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