1,2 Millionen russischsprachige Juden sind in den letzten 20 Jahren nach Israel eingewandert. Inzwischen hat jeder fünfte Einwohner des kleinen Landes russische Wurzeln. Viele Einwanderer leben abgeschottet in ihrer kleinen russischsprachigen Welt, andere haben es wiederum geschafft, in der neuen Heimat Fuß zu fassen.

Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung Israels stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Längst schon haben Politiker, Medienmacher und Wirtschaft die 1,2 Millionen Neuzuwanderer für sich entdeckt: Wahlkampf wird auf Russisch betrieben, eine Supermarktkette wirbt in kyrillischer Schrift für unkoscheres Schweinefleisch, und Wodka gibt es an fast jedem Kiosk zu kaufen. Russisch ist in Israel allgegenwärtig, seit der Perestroika: Gut 1,2 Millionen Menschen, Juden und deren Angehörige, haben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine neue Heimat im „Gelobten Land“ gefunden. Kyrillische Schriftzüge über schmalen Schaufenstern weisen den Weg in Lebensmittelläden, in denen tiefgefrorene Pelmeni, gezuckerte Kondensmilch und Salzgurken verkauft werden. An Sehnsucht nach sowjetischen Lebensmitteln braucht in Israel niemand zu leiden. Auch die Angst, aus Mangel an Sprachkenntnissen, uninformiert zu bleiben, kann man getrost vergessen: Russische Radiosendungen laufen über den Äther; ein halbes Dutzend Zeitungen informieren den russischsprachigen Leser in Israel und versorgen ihn mit dem neuesten Klatsch aus der alten Heimat. Werbespots und Filme im Fernsehen haben oft kyrillische Untertitel. Hinzu kommen Theatergruppen, Diskotheken und Rockfestivals. Das alles trage zu einem autonomen russischen Leben bei, das im Grunde völlig abgekoppelt sei von Israel, sagt der Soziologe Natan Sznaider von der Universität Tel Aviv. „Sie teilen sich den Raum mit Alteingesessenen, leben jedoch in ihrer eigenen Welt“, so Sznaider.

„Der Schock war groß“

Jakov Topsashvili ist einer, der es geschafft hat. Vor 14 Jahren kam er mit seiner Frau und den beiden Söhnen aus der georgischen Hauptstadt Tbilissi ins liberale Tel Aviv. „Der Schock war groß, wir schlitterten direkt aus dem Kommunismus in die Demokratie, ohne darauf vorbereitet zu sein“, so der Mittvierziger. Wie die meisten sowjetischen Einwanderer hatte Jakov bereits Verwandte in Israel. „Ein erheblicher Startvorteil“, sagt er heute. Anderthalb Jahre lernte Jakov Hebräisch, suchte Arbeit. Vergeblich. Schließlich wagte er den Sprung in die Selbständigkeit: Mit dem staatlichen Begrüßungsgeld eröffnete er einen kleinen Kiosk in der quirligen Ben-Yehuda-Straße in Tel Aviv. Der Laden erinnert an die Welt im Kleinen: Ukrainischer Krimsekt, georgischer Rotwein und Telefonkarten mit russisch-hebräischer Anleitung. Dazwischen brüht Jakov süßen orientalischen Mokka auf, presst israelische Jaffa-Orangen zu Saft und wärmt American Hotdogs auf. Im Hintergrund läuft ein Videofilm: die Bar-Mizwa seines 13-jährigen Sohnes, die jüdische Konfirmation. Eine georgische Band spielt, langbeinige blonde Schönheiten tanzen um ein opulentes Büffet herum. „Zum Glück gibt es so viele nette russische Mädchen hier, so haben meine Söhne auch Russisch gelernt in Israel“, scherzt Jakov. Obwohl man zu Hause nur Georgisch spreche, habe man sich von Anfang sprachlich integriert: „Ohne Hebräisch läuft hier überhaupt nichts“, sagt Jakov.

Nur wenige jüdische Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR arbeiten in ihren ursprünglichen Berufen. „Die Eltern machen meist einen wahnsinnigen sozialen Abstieg in Israel“, erklärt Natan Sznaider. Mütter würden putzen gehen oder im Supermarkt aushelfen, Väter arbeitslos sein. Dann setze jedoch der Druck auf die Kinder ein: „Ihr müsst arbeiten“, erklärt Sznaider das Prinzip, warum der Nachwuchs in die Elite aufsteige. Angespornt durch das Elternhaus würden viele zu seinen besten Studenten gehören.

Sznaider, der in Mannheim aufgewachsen ist, schwärmt von den neuen Einwanderern: Mehr Respekt gegenüber den Professoren und ein anderer Bildungsgrad würde die Studenten kennzeichnen. „Sie kommen mit einer gewissen Schwere in die Seminare, da sie schon Gorki und Puschkin gelesen haben“, sagt er. In nur wenigen Jahren werde die russische Elite an den Hochschulen dominant sein. Dennoch bleibt der Soziologe realistisch und nennt im gleichen Atemzug auch Schlagworte wie Menschenhandel und Prostitution. Auch habe sich ein Alkoholkonsum entwickelt, wie man ihn zuvor in Israel nicht gekannt habe, so Sznaider.

Vom Ingenieur zum Nachtwächter

Aron Antonowski weiß, was Statusverlust bedeutet. Vor 16 Jahren hat er gemeinsam mit Frau und Tochter die Ukraine verlassen. Ingenieur sei er sein Leben lang gewesen, in der Hauptstadt Kiew. Hier müsse er Kompromisse eingehen, sagt Aron. Beton habe er zunächst gemischt, auf dem Bau. Irgendwann habe er Arbeit als Nachtwächter gefunden, in einem Hotel in Jerusalem. Stolz zeigt er seine Waffe, die er im Dienst immer mit sich führt. Bis sieben Uhr morgens dauert Arons Schicht an der Pforte. Zeit genug, ausdauernd von seinem Hobby zu erzählen: Briefmarken und Münzen. Sogar eine eigene Rubrik leitet Aron in einer russischsprachigen Zeitung, außerdem hat er irgendwann den Sammlerklub „Gold Jerusalem“ gegründet – als Ausgleich zum Beruf, wie er sagt. Hebräisch spricht Aron nur gebrochen, Englisch versteht er sehr wenig. Der 61-Jährige zuckt mit den Schultern. „Wozu auch? Die Freunde sprechen alle Russisch“, sagt er.

Die politische Macht der Neuzuwanderer, die meist nur pauschal „die Russen“ genannt werden, ist nicht zu unterschätzen: Die extrem nationalistische Einwandererpartei „Unser Haus Israel“, in Anlehnung an die Moskauer Partei „Unser Haus Russland“ benannt, konnte bei den jüngsten Wahlen immerhin zwölf Sitze in der israelischen Knesseth erlangen, von insgesamt 120. Die meisten Abgeordneten sind sowjetische Einwanderer, ebenso wie ihre Wählerschaft. Der Politikprofessor Benjamin Neuberger von der Universität Tel Aviv begründet das Wahlverhalten mit einer Antipathie gegen Linksparteien, was mit der sowjetischen Vergangenheit zusammenhänge. Die Einwanderer wählen nicht links“, so der Experte.

Gründer der Einwandererpartei ist Avigdor Lieberman, ein Siedler im Westjordanland, der vor knapp 30 Jahren aus Moldawien nach Israel gekommen ist. Seine Vision: Die Araber zu vertreiben, die immerhin ein Fünftel der Bevölkerung stellen, vermeintlich durch Landtausch. Mit russischen Parolen auf Plakatwänden und im Fernsehen ist Lieberman vor den jüngsten Wahlen Ende März auf Stimmenfang gegangen – mit Erfolg, wie das Ergebnis zeigt.
Ein neues Phänomen ist die russische Einwanderung in Israel nicht, auch wenn sie nie so massiv war wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: Im Laufe des vorigen Jahrhunderts gab es immer wieder Migrationswellen, vor allem in den 1930er Jahren wanderten viele sowjetische Zionisten nach Palästina ein, wie die Region vor Gründung des Staates Israel hieß. Auch in den 1970er Jahren entschieden sich viele für ein Leben in Israel, nicht selten waren Dissidenten darunter, die lange Jahre in Sowjethaft verbracht hatten. Damals sei es ein Trend gewesen, sich hebräische Vornamen zu geben. So sei aus Dmitrij David geworden. In den letzten Jahren sei man jedoch dazu übergegangen, seinen russischen Vornamen beizubehalten, erklärt Natan Sznaider.

Mehr Juden gehen nach Deutschland

In den vergangenen Jahren war eine überraschende Tendenz zu bemerken: Mehr Juden aus dem postsowjetischen Raum sind nach Deutschland ausgewandert, als nach Israel. Dieser Trend ist vielen Israelis ein Dorn im Auge. Auch in Deutschland wurde im Vorjahr überlegt, die liberalen Einwanderungsbestimmungen zu verschärfen, etwa für ältere Menschen, die meist auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Aufgrund massiver Proteste von jüdischen Institutionen wurde diese Idee jedoch schon bald fallen gelassen.

Der Grund für die Auswanderung nach Deutschland sei das verträglichere Klima und die bessere medizinische Versorgung, sagt Leopold Kaiminski von der Jüdischen Gemeinde in Moskau. Auch die Angst vor Terroranschlägen in Israel spielt eine Rolle. Selbst wer nach Israel ausreist, bleibt nicht für immer dort: Nach Angaben der israelischen Tageszeitung „Ma´ariv“ halten sich sechs Prozent aller Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR seit mehr als einem Jahr außerhalb von Israel auf.

Die meisten Einwanderer aus der einstigen Sowjetunion sind säkular, sie halten den Schabbat nicht ein, essen Schweinefleisch und feiern Weihnachten oder sogar am 9. Mai den „Tag des Sieges über das faschistische Deutschland“. Dennoch pflegen viele von ihnen auch jüdische Traditionen wie die Zubereitung von Matze-Broten zu Pessah. Dass die Einwanderer das Leben in Israel beeinflussen, ist kaum zu leugnen. Soziologe Sznaider bleibt optimistisch: „Die russische Einwanderung ist das Beste, was Israel passieren konnte“, schließt er.

Von Veronika Wengert

02/06/06

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