Momente mit der Kamera einzufangen und spannende Geschichten selbstständig zu recherchieren – das waren die Hauptaufgaben für die fünfzehn Nachwuchsjournalisten aus Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien und Deutschland, die sich Ende August zur IV. Zentralasiatischen Medienwerkstatt in Almaty trafen. Dabei sparten weder die Seminarleiter noch die Teilnehmer mit Kritik und pflückten ihre Ergebnisse gegenseitig regelrecht auseinander. Heraus kamen sechs Reportagen über das Leben in Almaty.

/Bild: Juri Chegai . ‚Dieser Kuss symbolisiert für Juri Chegai „Freude“. Dritter Platz beim ZAM-Fotowettbewerb „Mein schönstes deutsches Wort“.’/

Montag: Kabelsalat.

Knallrote Kabel bedecken den größten Teil des Fußbodens in dem kleinen Seminarraum des Goethe-Instituts in Almaty. Sie winden sich quer durch den Raum, sind in Laptops eingestöpselt, hängen über Tischkanten, hängen zwischen schwarzen Stromkabeln und vereinen sich vorne in einem blinkenden Kästchen – der Verbindung zum weltweiten Datenstrom, dem Internet. Barbara Fraenkel-Thonet, Leiterin des Goethe-Instituts in Almaty, betrachtet den Kabelsalat und lacht: „Dieses Jahr sieht man gleich, was anders ist.“ Denn: den Schwerpunkt der IV. Zentralasiatischen Medienwerkstatt bildet Online-Journalismus. An den Tischen sitzen fünfzehn junge Menschen aus Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien und Deutschland, die gespannt sind, was in dieser Woche alles
passieren wird.

Erste Annäherung

Wer sind diese jungen Menschen? Warum sind sie hier? Die deutschen Teilnehmer, erfahrene Jungjournalisten, sind gespannt auf Kasachstan und die zentralasiatischen Teilnehmer. Florian besucht zurzeit in München die Deutsche Journalistenschule und arbeitet nebenher als freier Journalist für Zeitung und Radio. Seine wichtigsten Ziele: „Kasachstan kennenlernen. Erfahrungen austauschen.“ Auch Cornelius besuchte die Münchner Journalistenschule, macht jetzt einen Journalismus-Master und arbeitet nebenher als freier Autor. Er freut sich vor allem darauf, die Teilnehmer der Medienwerkstatt kennenzulernen.

Physik, Philologie… und Journalismus

Die zentralasiatischen Teilnehmer sind noch ein bisschen „grün“, was journalistisches Arbeiten betrifft. Juri aus Samarkand ist Philologe und hat „fast nichts“ mit Journalismus zu tun. Er ist zum ersten Mal in Almaty und möchte die Länder vergleichen. Die jüngste Teilnehmerin ist gerade siebzehn Jahre alt – Gulden aus Astana möchte nach dem Abitur Kulturwissenschaften studieren und in dieser Woche in Almaty vor allem: „Neues erfahren. Menschen kennenlernen.“ Nasiba aus Usbekistan studiert an der Weltsprachenuniversität in Taschkent Journalistik und erzählt, sie habe bisher nur vom usbekischen Journalismus gehört, jetzt möchte sie europäischen beziehungsweise deutschen Journalismus kennenlernen. Denis aus Karaganda ist eigentlich Physiker und arbeitet als Administrator eines Internetshops. Er will mehr erfahren über Fotografie und Online-Journalismus.

Fotografie ist mehr als knipsen

Fotografie bildet neben dem Online-Journalismus den zweiten Schwerpunkt der IV. Zentralasiatischen Medienwerkstatt, die vom Goethe-Institut Kasachstan und dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) im Rahmen von „Deutschland in Kasachstan 2010“ veranstaltet wird. Die Teilnehmer der Medienwerkstatt werden in dieser Woche nicht nur lernen, wie man Artikel für das Internet schreibt. Gleichzeitig wird Ines Thomsen, freie Fotografin aus Berlin, erklären, wie man professionell fotografiert. Die erste Aufgabe, die Seminarleiter Mathis Winkler von der Deutschen Welle den Teilnehmern an diesem Tag stellt, lautet jedoch zunächst, die Besonderheiten der einzelnen Medien herauszuarbeiten. Was ist das Besondere an einer Zeitung im Vergleich zum Radio? Wodurch unterscheidet sich das Fernsehen vom Internet? Mit Plakaten und Buntstiften bewaffnet, machen sich die Teilnehmer in gemischten Gruppen an die Arbeit.

Unterschiedliche Mediensysteme

Dabei streiten sie nicht nur darüber, ob man Inhalten im Internet vertrauen kann, sie erfahren gleichzeitig etwas über das Leben und die Medien in anderen Ländern: Oliver erklärt Gulden und Malika das duale Rundfunksystem in Deutschland, Nargisa erzählt Florian von usbekischen Zeitungen. Nachdem Mathis Winkler später am Nachmittag erklärt hat, worauf man achten muss, wenn man journalistische Texte für das Internet gestaltet, schickt Fotografin Ines Thomsen die Teilnehmer an diesem ersten Tag los, eine Person in der Umgebung zu porträtieren. Es ist schon früher Abend, als die Nachwuchsjournalisten sich auf die Suche nach interessanten Menschen und ihrer Lebensgeschichte machen.

Dienstag: Erste Ergebnisse, erste Kritik.

Die Jalousien sind heruntergelassen. Hell an die Wand gebeamt ist eine junge kasachische Frau, die vor Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln steht. Die Situation in einem typischen kleinen kasachstanischen Geschäft um die Ecke. „Was wolltest du einfangen?“ fragt Ines Thomsen.

Aischan, die das Foto aufgenommen hat, antwortet „Diese Frau ist so freundlich und offen. Nicht so wie die meisten anderen Verkäuferinnen. Das hat mir gefallen.“ „Hast du das Gefühl, dass du das eingefangen hast?“ fragt Ines Thomsen erneut. „Was denken die anderen?“ Die anderen finden, dass die Nahaufnahme sehr schön geworden ist, weil die Verkäuferin so natürlich lächelt und ihr Charakter gut zur Geltung kommt. Ines pflichtet bei: „Ich finde auch, dass ihr Blick, ihre Augen ihr Wesen sehr schön beschreiben.“

Wenn möglich, ohne Blitz!

Auch Gulden aus Astana hat eine junge Frau fotografiert. Auf dem Foto steht diese vor einem Schrank und betet. Gulden erzählt, dass die junge Frau sich selbst für den Glauben entschieden hat, und welche Bedeutung er in ihrem Leben einnimmt. „Das sieht man auch auf dem Foto“, lobt Ines Thomsen. Dagegen stimmt die Schärfe nicht, sie liegt nicht auf der Person, sondern auf dem Schrank hinter ihr. Heute noch nicht so schlimm – die technische Einweisung kommt erst, nachdem alle Porträts besprochen wurden. Die Fotografin aus Berlin erklärt Begriffe wie Belichtungszeit, Weißabgleich, Lichtempfindlichkeit, und wird vor allem nicht müde zu betonen, warum man immer versuchen sollte, ohne Blitz zu fotografieren: „Der Blitz macht Bilder flach! Natürliches Licht schafft Mehrdimensionalität!“

Foto-Wettbewerb

Nach der Theoriestrecke bekommen die Teilnehmer ihre zweite Foto-Aufgabe: Fotografiert das „schönste deutsche Wort“. Sie schreibt Vorschläge an die Tafel: Gerechtigkeit. Wohlstand. Zufriedenheit. „Wollust!“ wirft Juri in die Runde. Alle lachen. „Ihr sucht euch ein Wort, schreibt einen Text dazu und sucht euch das passende Fotomotiv,“ erklärt Ines Thomsen, „ganz wichtig dabei – macht das, wozu ihr Lust habt.“ Das beste Foto soll am Freitag prämiert werden. Es ist wieder spät geworden an diesem Nachmittag. Manche gehen nach dem Theorie-Marathon erst mal auf den Grünen Basar, andere legen gleich los, grübeln, wägen Vorschläge gegeneinander ab, blättern im Wörterbuch.

Die Suche nach dem perfekten Motiv

Aischan würde gerne was Schönes fotografieren, hat aber Angst, es könnte zu einfach sein. Nargisa sucht etwas Emotionales, Positives und entscheidet sich für das seltene Wort „Abbitte“. Gulden hat erst gar keine Idee. Sie entscheidet sich nach langen Überlegungen für „Friedfertigkeit“, Aischan wählt „Wasser“. Aber wo ist das perfekte Motiv für diese Wörter? Während Aischan kunstvoll ein Wasserglas inszeniert, findet Gulden „Friedfertigkeit“ in einer ethnisch gemischten Familie. In ihrem Text schreibt sie: „Kasachstan ist ein multikulturelles Land. Es ist ein bisschen kompliziert, weil alle Menschen eine andere Weltanschauung, eine andere Mentalität haben. Friedfertigkeit soll aussagen, wie die Leute in Kasachstan leben. Bei uns gibt es Völkerverständigung.“

Mittwoch: Ein Kuss und Freiheit.

Bei der Besprechung der zweiten Foto-Tour am nächsten Morgen wird deutlich, wie unterschiedlich die Ideen der Teilnehmer ausgefallen sind. Eine junge Frau küsst ein buntes Kamel – das Motiv symbolisiert für Juri „Freude“. Ein Vogel im Käfig illustriert Nasibas Gedanken: „Manchmal denke ich: Wenn ich nicht ein Mensch, sondern ein Vogel sein würde, was würde ich machen? Ich wäre die Glücklichste, weil ich würde in den Himmel fliegen und die ganze Freiheit fühlen. Für mich ist das beste Wort auf der ganzen Welt: Freiheit. Aber manchmal bleibt unsere Freiheit im Käfig wie bei diesem Vogel.“

Es wird ernst – die Recherche

Nach dem Fotografieren wird es noch „ernster“ für die Nachwuchsjournalisten – die große Aufgabe in dieser Woche besteht darin, spannende Geschichten zu finden, selbstständig zu recherchieren und eigene Texte zu schreiben. Mathis Winkler erklärt, wie die Plattform WordPress funktioniert, mit der Texte und Fotos Online publiziert werden können.

Donnerstag: Geschichten finden.

Die Suche nach der Wahrheit und spannenden Geschichten führt die Jungjournalisten in die unterschiedlichsten Winkel Almatys. Florian und Juri beobachten in Internet-Cafés Jugendliche und junge Erwachsene beim Spielen, Schreien und Fluchen. Malika und Oliver fahren auf der Suche nach den Besitzern von Villen im Elite-Stadtviertel „Gorny gigant“ sogar hoch zum Eisstadion Medeu. Ihre Recherche verläuft nicht nach Plan, sie können die benötigten Informationen nicht einholen und ändern kurzfristig ihre Pläne. Malika erzählt: „Wir haben uns die „coolen“ Häuser angeschaut und gefragt, wer die gebaut hat. Niemand wusste es. Später haben wir einen Taxi-Fahrer gefragt, was er davon hält.“

Freitag: Endergebnisse. „Auseinanderpflücken“.

Müde, aber immer noch motivierte Gesichter am Freitag Nachmittag. Einige haben bis spät in die Nacht hinein oder bis früh an diesem Morgen an ihrem Artikel gefeilt und sind dementsprechend erleichtert, als ihre Texte und Fotos endlich im Internet stehen. Am letzten Tag der Medienwerkstatt wird mit Kritik nicht gespart. Überschriften, Teaser, Sätze werden regelrecht „auseinandergepflückt“ – von Mathis Winkler, aber auch von den Seminarteilnehmern. Bei Lenas und Nicolas’ Artikel über den jungen Ministranten Kirill wird die Überschrift „Die Kirillische Schrift“ kritisiert, das Wortspiel würde man nicht erkennen und überhaupt würde man dahinter einen ganz anderen Text erwarten. Auch bei Juris und Florians Artikel über Spielsucht wird die Überschrift „Internetcafés in Almaty: Schwitzen ohne Sport“ attackiert. Denis findet sie unklar. Mathis Winkler hakt nach: „Nervt die Überschrift eher oder interessiert sie dich eher?“ Denis zögert nicht: „Nervt eher!“

Das schönste deutsche Wort in Almaty

Zum Schluss gibt es Urkunden für jeden Teilnehmer und Bücher für die drei Gewinner des Fotowettbewerbs. Den ersten Preis gewinnt Denis Kamenew aus Karaganda mit seinem Foto „Funkeln“, auf dem in dunkler Nacht Lampen in Sternform leuchten. Im dazugehörenden Text schreibt er: „Die warme Nacht, Musik, Lächeln und funkelnde bunte Sterne – so können die Abende in Almaty sein.“ Wer im Rahmen der Medienwerkstatt Spaß am Fotografieren und Schreiben gefunden hat, kann auch in Zukunft als Autor für die Deutsche Allgemeinen Zeitung (DAZ) tätig werden. Das ist der Abschluss einer Woche, in der fünfzehn junge Menschen aus Deutschland und Zentralasien zusammengearbeitet, viel über einander und voneinander gelernt haben. Und dazu noch neue Freunde gefunden haben – am Tag darauf schreibt Malika auf ihrer Facebook-Seite: „Freunde von ZAM, ich vermisse euch schon!“

Von Julia Burkhart

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