Jurij Serebrjanskij hat mit seiner Märchensammlung eine moderne Folklore ins Leben gerufen, die sich an alle Kasachstaner richtet. Doch worin genau liegt das neue Identitätsangebot des Schriftstellers? Nina Frieß vom ZoiS erklärt, was es mit den kasachstanischen Märchen auf sich hat.

In seinen Geschichten verwandelt Jurij Serebrjanskij die Millionenstadt Almaty in einen Märchenwald, lässt Figuren in den Gemächern des Kök-Töbe-Schlosses spazieren und einen goldenen Adler über den Weiten der kasachischen Steppe kreisen. Kein Land der postsowjetischen Staaten vereint so viele Minderheiten wie Kasachstan. Entsprechend groß ist die Vielfalt der Kulturen, Sprachen und Religionen, aber auch der literarischen Folklore im Land.

„Wenn wir uns mit der literarischen Folklore Kasachstans beschäftigen, fällt schnell auf, dass diese in aller Regel ethnisch kategorisiert wird. Jede ethnische Gruppe Kasachstans hat in dieser Logik also ihre eigene Folklore, ihre eigenen kulturellen Traditionen“, sagt Nina Frieß vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZoiS) in Berlin. Die Slawistin hat kürzlich einen Report veröffentlicht, welcher sich inhaltlich mit den Märchen von Jurij Serebrjanskij auseinandersetzt.

Der Vielvölkerstaat und die daraus hervorgehende Schwierigkeit sich in einer gemeinsamen Folklore zu identifizieren, haben Serebrjanskij in seinem Entschluss gestärkt, selbst Märchen zu schreiben – für Menschen wie ihn. Der Schriftsteller und Journalist stammt aus einer polnischen Familie, identifiziert sich als solcher, schreibt aber auf Russisch und lebt in Kasachstan. Er unterrichtet als Dozent an der Offenen Literaturschule in Almaty und ist Herausgeber der polnischen Diaspora-Zeitung „Ałmatyński Kurier Polonijny“. Serebrjanskij stammt aus der dritten Generation polnischer Vorfahren, die in den 1930er Jahren unter Josef Stalin nach Kasachstan verbannt wurden. Das Dilemma der kulturellen Identitätsfindung ist ersichtlich: Polen ist weit weg und Serebrjanskij in Kasachstan. Vielen Bürgern des Landes geht es ähnlich wie dem Schriftsteller.

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Ein neues Identitätsangebot für alle Kasachstaner

„Ich habe den Eindruck, dass sich die Idee einer staatsbürgerlichen, ethnisch inklusiven Identität, wie sie sich im Begriff ‚Kasachstaner‘ spiegelt, bislang nicht durchsetzen konnte“, erklärt Frieß. „Der Terminus wird nach wie vor eher von Angehörigen ethnischer Minderheiten als von Kasachen benutzt. In der Außendarstellung des Landes spielt seine – stark folklorisierte – Multiethnizität allerdings nach wie vor eine wichtige Rolle. Insgesamt ist es der Elite aber bislang nicht gelungen, ein Angebot für eine kasachstanische Identität zu entwickeln, das für alle Bürger Kasachstans unabhängig von ihrer Herkunft gleich attraktiv wäre.“

Serebrjanskij gelingt mit seinen Märchenerzählungen das, was der Elite verwehrt blieb, indem er zeigt, „dass es etwas gibt, das alle Bürger Kasachstans verbindet, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Das können etwa konkrete Orte sein, kulturelle Artefakte oder bestimmte Ereignisse. In dieser Wiedererkennung und manchmal auch Dechiffrierung liegt das Identitätsangebot, das Serebrjanskij seiner Leserschaft macht: Wer in der Lage ist, den kulturellen Code der Märchen zu knacken, gehört zur Gemeinschaft. Ob man aus einer kasachischen, deutschen oder polnischen Familie kommt, spielt dabei absolut keine Rolle“, erläutert Frieß.

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Literatur verliert an Bedeutung

Der Märchenband umfasst die Originaltexte in russischer Sprache samt kasachischer Übersetzung und richtet sich an ein breitegefächertes Publikum. „Damit ist er nahezu allen Kasachstanern verständlich“, schlussfolgert Frieß. Die Geschichten haben das didaktische Ziel, der russischsprachigen Leserschaft die kasachische Sprache näher zu bringen. Darüber hinaus machen die stilistische Vielschichtigkeit und die inhaltliche Tiefe der Märchen die Geschichten Serebjanskij nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene interessant und regen zum Denken an. In den Märchen werden wichtige Probleme wie die Verlandung des Aralsees oder der fehlende Dialog zwischen Regierung und Bevölkerung angesprochen. Frieß lehnt es jedoch ab, Serebrjanskijs Einschätzungen einem politischen Statement gleichzusetzen. „Es ist richtig, dass die ‚Kasachstanischen Märchen’ eine zweite, oft sozialkritische Ebene haben, allerdings geht seine Kritik niemals über das bloße Konstatieren von Missständen hinaus“, stellt die Slawistin fest.

Die kasachische Medienlandschaft ist stark eingeschränkt, insbesondere Journalisten und Blogger haben mit der harschen Zensur im Land zu kämpfen. Dennoch wurde die Veröffentlichung der sozialkritischen Märchen von der Regierung geduldet. Frieß sieht dafür zwei Gründe als entscheidend an: „Sein Buch enthält kein politisches Programm, keinen Entwurf für ein anderes Kasachstan oder gar einen Aufruf zu politischen Aktivitäten. Das dürfte der eine Grund sein, warum das Buch in Kasachstan problemlos veröffentlicht werden konnte. Wichtiger erscheint mir aber, dass die politischen Eliten – im gesamten postsowjetischen Raum – Literatur keine große Bedeutung mehr zuschreiben.“ Heute seien Fernsehen und Internet die bevorzugten staatlichen Propagandainstrumente. „Für die Literatur eröffnen sich damit Freiräume, die andere Medien aktuell nicht haben“, so Frieß.

Serebrjanskijs Geschichten spiegeln seine eigenen Erfahrungen wider. Das Buch ist ein Versuch, zu den aktuellen Geschehnissen persönlich Stellung zu nehmen. Insgesamt ist die Märchensammlung zehn Jahre lang gereift. Das erste Märchen schrieb er bereits 2006. Die Mittel für die Veröffentlichung des Buches wurden schließlich über eine Crowdfunding-Kampagne gesammelt. Dem Autor gelingt es, durch die in den Märchenszenen verflochtene Realität ein gemeinsames Bewusstsein unabhängig von Ethnizität und Kultur zu schaffen.

Karina Turan

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