„Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser als man glaubt“, dieser Liedanfang aus Herbert Grönemeyers Bochum passt auch gut zu Aktöbe.

Zugegeben, es sind eher die Steppenwinde als der Kohlenabbau, die den Staub herbei wirbeln, aber eine Industriestadt ist Aktöbe allemal, in der Eisen und seltene Metalle – vor allem Chrom – verarbeitet werden. Eine besondere Rolle spielt ebenso die Ölindustrie, für die Arbeiter und Ingenieure ausgebildet und die auf der Steppe verstreuten Anlagen verwaltet werden.

Selten verschlägt es Touristen nach Westkasachstan. Warum auch? Was gibt es denn dort außer der unendlichen Steppe? Leicht könnte man Aktöbe als hässliche postsozialistische Industriestadt abtun. Interessant wird es, wenn man versucht, die interne Logik der sowjetischen Stadtplanung zu begreifen, deren zentrale Achsen immer noch das Stadtbild beherrschen, obwohl die Stadt inzwischen beinahe auf eine halbe Million Einwohner gewachsen ist. Viele Perlen der alten Architektur wie das Kinotheater Lokomotive oder die Prachtbauten an der Siegesallee blieben erhalten. Auch neue reizvolle Komplexe erstanden, wie zum Beispiel das Zentrum Nurdaulet, eine Shopping Mall mit integrierter Moschee.

Aktöbe pulsiert. Auf den Straßen herrscht geschäftiges Treiben, bei dem der Kleinhandel auf und um die zahlreichen Bazare floriert. Gerade in den letzten fünf Jahren kamen immer mehr Menschen aus der umliegenden Provinz nach Aktöbe, um am wirtschaftlichen Aufschwung teilzuhaben. Zwar sind die großen Pfründe in der Ölindustrie längst aufgeteilt, aber die Menschen hoffen auf einen persönlichen Aufstieg in der Stadt, denn in der Landwirtschaft lässt sich im aktuellen politischen Klima kaum mehr als die Existenz sichern.

Über die Hälfte der Bevölkerung der riesigen Provinz Aktöbe wohnt nun in der Hauptstadt. Mit der Verstädterung tauchen zahlreiche Probleme auf, wie der Zugang zu Wohnraum oder zum urbanen Arbeitsmarkt. Ärmere Familien können sich kein Haus in der Stadt leisten, von denen selbst alte renovierungsbedürftige selten unter 80.000$ angeboten werden, sondern müssen zusammen mit anderen Familien eine Wohnung zusammen mieten. Streit unter den einzelnen Mietpartien ist dabei meist vorprogrammiert. Einige wohlhabende Familien kaufen Baugrund und errichten selbst ihr Haus, wobei die Kosten stark variieren, nicht unbedingt aufgrund der Baumaterialien, sondern je danach, welche Bauabschnitte sich durch Kontakte der Familie billiger und zuverlässiger organisieren lassen als auf dem offiziellen Markt. Eine wichtige Rolle spielen die Bestechungsgelder, die bereits mit den Zuwendungen für das Rathaus anfangen, um ein Grundstück zu erhalten.

Die Suche nach Arbeit gestaltet sich für die Zugezogenen oft schwierig. Zwar gibt es seit einem Jahr ein Arbeitsamt, das Leerstellen vermittelt, jedoch sind Migranten darüber schlecht informiert. Selbst wenn die Institution angelaufen wird, sind viele Arbeitssuchende enttäuscht, denn nur wenige größere Unternehmen schreiben Stellen aus, die miserabel bezahlt werden. 20.000 Tenge (ca. 100€) im Monat für einen Sicherheitsmann, davon kann niemand leben. Berufsanfänger haben schlechte Karten, da die meisten Angebote nur für Arbeitnehmer mit Erfahrung ausgeschrieben werden. Lohnende Stellen sind oft nur durch Kontakte zu bekommen, weswegen sich soziale Netzwerke wie die Großfamilie, die Abschlussklasse der Schule oder der Studiengang an der Uni eine wichtige Ressource darstellen.

Russen und andere aus Europa stammende Ethnien in Westkasachstan, deren Familie oft weniger verzweigt ist als bei Kasachen, haben hierbei Nachteile. Vielleicht sind sie deswegen offener für Arbeitsangebote aus dem Ausland. Der unmittelbare Nachbar Russland entfaltet mit seinen vielseitigen Studien- und Jobangeboten seine Magnetwirkung. Seit der gemeinsamen Zollunion kann Moskau seinen Einfluss in der Region stärker zur Geltung bringen. Selbst Gemüse und Früchte werden nicht mehr aus dem Agrarriesen Usbekistan importiert, sondern aus Europa über russische Großmärkte.

Durch die vielen Migranten in der Stadt treffen mannigfaltige Lebensstiele aufeinander. Ein perfekter Ort, um alle von westlich angezogenen Hiphoppern bis hin zu Großmüttern in selbstgestrickter Kleidung zu beobachten, ist die Shopping Mall „Mega“, die es in vielen kasachstanischen Städten gibt. Vor allem an den Wochenenden zieht sie viele Menschen zum Ausflug mit der Familie oder den Freunden an. Das Einkaufszentrum wird zur großen Bühne, um zu sehen und gesehen zu werden. Wer möchte, kann sich in den Boutiquen ein modisches Outfit zulegen. Niemand stört sich hier am Ungewohnten, einige suchen das gerade. Großer Beliebtheit erfreuen sich das Kino und der Kinderpark aus dem das stetige Tosen der Kleinen unüberhörbar nach draußen klingt. Die amerikanische Mall-Idee fruchtet auch auf der westkasachstanischen Steppe: Ein Gebäude als Konsumtempel und Ausflugsziel und die Freizeit zu verbringen. Selbst die Ecken des Einkaufszentrums, in denen die Geschäfte geschlossen haben oder in Umbau sind werden von Liebespaaren frequentiert, die es sich auf den Bänken bequem machen.

Klassische Elemente des kulturellen Lebens Aktöbes wie die Philharmonie oder das Theater, zu dem regelmäßig Gasttruppen und -regisseure aus Russland und der EU eingeladen werden, üben weniger Anziehungskraft auf Migranten aus. Allerdings bilden die Stadtparks einen Anlaufpunkt vor allem für Freundeskreise von Jugendlichen und junge Mütter mit ihren Kinderwägen. Die Museen Aktöbes wirken hingegen sehr verstaubt. Weder das geologische Museum noch das Heimatkundemuseum vermögen es, durch interessante Ausstellungen Besucher anzuziehen. Der noch aus der Sowjetzeit wissenschaftlich-nüchterne Aufbau- und Darstellungsstil wirken heute eher abschreckend. Sonderveranstaltungen werden erst gar nicht angedacht.

Während früher Bezeichnungen der Stadtviertel wie „Tatarka“ oder der Arbeiterviertel „Zhilgorodok“ (zu Deutsch Wohnstadt), sofort auf die Bewohner der Stadtviertel schließen ließ, ist es heute um einiges schwieriger geworden, Rückschlüsse auf die Anwohner zu ziehen. Die stabilen Wohnverhältnisse der Sowjetzeit gehören der Vergangenheit an. Heute tauschen die Aktöbeer ihre Wohnungen und Häuser munter aus, wenn sie sich finanziell eine bessere Bleibe leisten können. In den Neunzigern stand durch den Wegzug von zumeist Russen und Deutschen Wohnraum massenhaft zu Verfügung, in der letzten Dekade stoppte der Prozess und die Preise schossen nach oben. Viele kennen ihre Nachbarn nicht oder kaum. Im Gegensatz zu Deutschland ist es nicht unbedingt üblich, sich im Treppenhaus zu grüßen.

Es mag vielleicht sein, dass die Menschen in Westkasachstan etwas verschlossener erscheinen als im südlichen Zentralasien, jedoch wird man herzlich empfangen, wenn man sich kennt. Zu Gast bei Kasachen kann man schnell regionale Unterschiede erkennen, so gilt es hier als Delikatesse, angebratene Gerstenkörner, kasachisch „tary“, in den Tee zu rühren. Gerade Europäer sind gern gesehene Gäste. In Westkasachstan herrscht ein großes Interesse an Europa und der westlichen Welt. Sprache, Kultur, Technik, nach allem besteht hier Wissensdurst. Junge Menschen machen sich klar, dass die heutige Welt durchlässigere Grenzen besitzt. Studenten träumen von einem Studium in Europa oder Nordamerika.

Der Autor ist Ethnologe und forscht im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin über Binnenmigration in Westkasachstan.

Von Philipp Frank Jäger

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