Wird sich der Tourismus in Kasachstan zu einer „Industrie” entwickeln oder zu einer Oase der Gastfreundschaft? Beobachtungen und Gedanken aus Anlass der Auftritte Kasachstans auf der Internationalen Tourismusbörse Berlin (ITB) und der Rheinland-Pfalz-Ausstellung in Mainz.

Auf der jährlich stattfindenden Rheinland-Pfalz-Ausstellung in Mainz findet man Kasachstan in der lukrativen Halle 1. Das Land teilt sich einen Stand mit Usbekistan, den Regionen Saratow (Russland) und Opole (Polen) sowie dem gastgebenden Mittel- und Osteuropazenrum Rheinland-Pfalz. Das Echo jedoch ist verhalten. In drei Tagen äußert nur eine Handvoll Messebesucher echtes Reise-Interesse an Kasachstan: Ein wanderlustiges Ehepaar in den mittleren Jahren, zwei Freundinnen, eine davon Spätaussiedlerin, und eine Frau, die als Ziel “in der Natur sein, bei einfachen Leuten zu Gast sein und keine anderen Touristen treffen” angibt. Die anderen, die hin und wieder erst zaghaft zum Stand kommen, dann aber mit zunehmender Begeisterung lange bleiben und viel wissen wollen, sind deutsche Aussiedler aus Kasachstan, die es sehr zahlreich in die Rhein-Main-Region verschlagen hat, denn hier gab und gibt es Arbeit. Alle von ihnen sind schon mehr als 15 Jahre in Deutschland, die meisten waren seit ihrer Ausreise nicht mehr im Land ihrer Geburt. Auf die Frage nach dem Heimweh antworten die meisten mit Kopfschütteln – aber neugierig sind sie doch, und bei bestimmten Worten fangen ihre Augen an zu leuchten. Plötzlich wechseln sie ins Russische. Gory, prostory, stepj, kastjor, rybalka. Berge, Weite, Steppe, Lagerfeuer, Angeln, Aport. Dass es die berühmte Apfelsorte kaum noch gibt, wollen die meisten gar nicht glauben. Auf die Einladung, doch mal wieder zu Besuch zu kommen, reagieren sie verhalten. “Keiner mehr da”, “zu teuer”, “bin bange zu sehen, dass meine Erinnerungen nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmen”. Zwei nehmen die angebotene Visitenkarte mit und sagen “posmotrim”. Die übrigen Standbesucher erzählen von ihren Kollegen, Nachbarn, Freunden, die aus Kasachstan kommen, nehmen auch gern für jene kleine Souvenirs mit, um ihnen eine Freude zu machen, aber wollen nicht nach Kasachstan reisen. Tief im Westen von Deutschland ist man nach wie vor nicht bereit für eine Reise in den unbekannten Osten. Es sind bewährte Produkte wie die Transsib und Usbekistans Seidenstraßenstädte, die das Rennen machen.

Auch auf der weltgrößten Tourismus-Messe ITB ist nicht viel zu merken von der Aufbruchsstimmung, die Kasachstans Tourismusbranche verordnet wurde. Der Andrang auf dem großen, 2010 und 2011 preisgekrönten Stand mit der Aufschrift “Kazakhstan” hält sich in Grenzen, nur bei den Auftritten der Musikgruppe „Sazgen Sazy“ strömen die Besucher zusammen. An den Tischen der wenigen kasachstanischen Reisebüros wird unauffällig, aber konzentriert gearbeitet. Es ist das typische Gemisch von neugierigen Vielleicht-Touristen, Souvenirjägern und Broschürensammlern, potentiellen Partnern, erfahrenen Globetrottern, Reisejournalisten und geschäftstüchtigen Beratern. Drei junge Leute aus Astana repräsentieren das unlängst aufgelöste Ministerium für Tourismus und Sport, das nunmehr als Komitee für Tourismus dem Ministerium für Industrie und neue Technologien untergeordnet ist. Welche Linie sie vertreten sollen, wissen sie offenbar nicht mit Sicherheit, denn alles ist im Wandel. Als programmatisch darf der Wechsel zum Industrieministerium allemal gelten, denn nichts weniger als die Verwandlung des bisher eher bescheidenen Wirtschaftszweiges in eine Tourismus-Industrie strebt man an.

In seiner traditionellen Neujahrsansprache hatte Präsident Nursultan Nasarbajew am 27.1.2012 angemerkt, dass weltweit 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Tourismus erwirtschaftet werden, in Kasachstan seien es jedoch weniger als 1 Prozent. Das gelte es zu ändern, und er sagte auch gleich, wie. Kasachstan werde mehrere große Skigebiete bauen, die mindestens eine Millionen ausländische Touristen ins Land bringen sollen. Nasarbajew benannte auch zwei Standorte für diese „Cluster“: das nördlich der Hauptstadt Astana gelegene Borowoje (kasachisch Burabai) im gleichnamigen Nationalpark, und die zum Nationalpark Ile-Alatau gehörenden Gebirgsrücken südlich von Almaty. Nicht allen gefallen diese Pläne. In einem offenen Brief mit über 1500 Unterschriften, den die Organisation „Green Salvation“ im Januar an Nasarbajew geschickt hatte, werden sowohl die Refinanzierbarkeit als auch die soziale und Umweltverträglichkeit des bei Almaty geplanten Skigebiets „Kok Zhailjau“ angezweifelt. Nicht bekannt ist, auf welchem Wege man die Zahl der jährlich ins Land kommenden Touristen in kurzer Zeit von gegenwärtig 40.000 auf eine Million steigern will. Eine Antwort, wo die Almatyner am Wochenende spazieren gehen sollen, wenn ihr geliebtes Kok Zhailjau „umgewidmet” wird, ist man bisher schuldig geblieben. Unklar ist auch, wie man es anstellen will, dass 500 km neu zu bauende Pisten sich nicht nachteilig auf das fragile Ökosystem des Nationalparks Ile-Altau auswirken, der auch ohne das Skigebiet schon extrem unter anthropogenem Druck steht.

Immer noch setzt Kasachstan auf Tourismus-Entwicklung von oben. Vom Staat werden sogenannte Megaprojekte angeordnet, für die man Machbarkeitsstudien bestellt, nach deren Ergebnissen dann Investoren gesucht werden. Mehrere dieser Megaprojekte warten seit Jahren auf ihre Investoren. Im Falle der beiden geplanten Skigebiete will der Staat in die technische Infrastruktur investieren und hofft dann auf den Zustrom der Investoren, die auf die fertig planierten und verkabelten Berghänge nur noch die Skilifts und Chalets stellen müssten. Kritiker dieser Herangehensweise bemerken, dass gerade Tourismus ein extrem nachfragesensitiver Zweig ist und sich nicht von oben verordnen lässt. Tourismus entwickelt sich dort besonders erfolgreich, wo der Staat per Mittelstandsförderung Anreize schafft und sich vom Markt her eine kreative Produktvielfalt entwickelt. Der Begriff “Industrie” ist hier verfehlt und wirkt eher abschreckend, weil er an standardisierte Massenlösungen erinnert und nicht an herzliche Gastfreundschaft. Ein Gast möchte sich immer so fühlen, als ob er persönlich gemeint ist und nicht als Teilchen einer seelenlosen Industrie.

Die Aussteller auf der Messe setzen derweil auf ihre bewährten Produkte: Seidenstraße, Baikonur, Reittouren im Altai, Jeeptouren auf Mangyschlak, Wandern im Tienschan. Die Skiprojekte sehen sie kritisch, sie erwarten keine Steigerung ihres Touristenaufkommens davon. Die Besucher des Stands zucken gleichgültig mit den Schultern. Ob sie nach Kasachstan kommen würden, wenn sie dort eines der größten Skigebiete der Welt erwarten würde? “Nee, wennick Schifahrn will, fahrick inne Alpen!”, schnoddert ein Berliner, “so viel Jeld fürn Fluchticket habick nich!” Eine Frau, die schon in Kasachstan war, ergänzt: “Es wäre sehr schade, wenn sie das machen würden. Der ganze Zauber würde verloren gehen. Ski fahren kann ich überall, aber solche großartige, schier unberührte Natur finde ich nur in wenigen Ländern, zum Beispiel in Kasachstan. Das Land verspielt seinen größten Schatz.” Und ein Marketing-Experte meint trocken: “Naturoasen und nichts anderes sind Kasachstans USP (unique selling position), es wäre extrem unklug, das nicht zu nutzen.”

Das sehen auch versierte Globetrotter, Reisejournalisten und Experten aus der World Travel Organisation der UNO (UNWTO) so. Sie sind sich einig darin, dass das Haupthindernis für höhere Touristenzahlen in Kasachstan nicht das Fehlen von standardisierten Angeboten wie Skiurlaub usw. ist, sondern die unübersichtlichen Visaregelungen in den Ländern der Seidenstraße, hohe Preise, mangelnder Service und vor allem das Fehlen von zuverlässigen Reisebüro-Partnern vor Ort. So wurde zum Beispiel auf einem während der ITB von der UNWTO initiierten Meeting von Reiseveranstaltern auf der Seidenstraße vorgeschlagen, zuerst die Visaregeln zu vereinheitlichen, ein einheitliches Seidenstraßenvisum zu schaffen und die Wirkung dieser Maßnahme auf die Touristenzahlen zu prüfen, bevor man andere Entwicklungsschritte unternimmt. Kirgistan wird in diesem Sommer die Visapflicht für Touristen probehalber abschaffen, in Kasachstan ist das für spätestens 2013 angedacht. Sollte sich nach diesem Schritt das Touristenaufkommen sichtbar erhöhen, kann eine gute Mischung von politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen der Tourismusförderung dem kasachstanischen Tourismus den ersehnten Schub geben. Spätestens dann wäre es an der Zeit, Touristen-Informationszentren zu schaffen, Wanderwege und Schutzhütten in Bergen anzulegen, kasachstanweit ein Netz von gepflegten Camping- und Caravaning-Plätzen, Jugendherbergen und preiswerten Hostels zu organisieren, das Buchungssystem für die Eisenbahn zu vereinfachen, stillgelegte Straßen in ein Radwegenetz zu verwandeln, Guides für die Arbeit mit Gästen fit zu machen usw. Unzweifelhaft erfordert das mehr Arbeit, als “einfach nur” ein Mega-Skigebiet von einer ausländischen Firma bauen zu lassen, aber es könnte einen wesentlich besseren, breiteren und nachhaltigeren Effekt haben.

Von Dagmar Schreiber

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