Als Russlanddeutscher und Sonderumsiedler in Kasachstan hatte Ernst Boos mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Dank seiner Hartnäckigkeit und Arbeitsfähigkeit konnte er sich dennoch vom Laboranten zum Akademiker der Nationalen Akademie der Wissenschaften Kasachstans hocharbeiten. Als Physiker leitet er bis heute den Wissenschaftlichen Verband der Deutschen Kasachstans. An der Schwelle zu seinem 80. Geburtstag am 17. August blickt der russlanddeutsche Physiker Ernst Boos auf sein Leben zurück.

/’Dank seiner Hartnäckigkeit und Arbeitsfähigkeit konnte sich Ernst Boos vom Laboranten zum Akademiker der Nationalen Akademie der Wissenschaften Kasachstans hocharbeiten.’/

Herr Boos, viele Russlanddeutsche haben ein tragisches Schicksal erlebt. Auch Ihre Familie ist von Deportationen und Repressionen betroffen gewesen.

Zusammen mit meiner Tante Ella, der Schwester meines Vaters, bin ich 1941 von Moskau nach Kasachstan deportiert worden. Mein Vater lag, verletzt von einem Bombenangriff, im Krankenhaus. Auf Anweisung des Kommandanten mussten wir ihn zurücklassen. Meine Tante und mich hatte man in einen Güterzug gesteckt und sehr langsam, mit Halt an jeder Station, an den Aralsee gefahren. Dort verließen wir den Zug. Wir schauten uns um: Rundherum Sand und am Horizont Kamele. Die örtlichen Bewohner bekamen vom Stadtbezirkskomitee die Anweisung, uns in kasachischen Dörfern, sogenannten Aulen, anzusiedeln.

So gerieten wir in den Aul Bos-Gul des Bezirkes Kasalinsk im Gebiet Kysylorda. Es war August, und die Kasachen waren mit ihren Herden auf die Sommerweiden gezogen. Im Aul standen einzig ihre verlassenen Lehmhäuser ohne Fenster und Türen, denn die waren den Kasachen sehr kostbar und die hatten sie mitgenommen. Und in diese leeren Häuser ohne Fenster und Türen hat man uns gebracht. So begann mein Leben in Kasachstan.

Haben Sie Ihren Vater je wiedergesehen?

Damals kam kaum Post an. Erst nach Jahren fand meine Tante heraus, dass mein Vater nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus im November der antisowjetischen Einstellung beschuldigt und ins Gefängnis geworfen worden war. Mein Vater wehrte sich gegen diese Beschuldigung. Ich habe die Protokolle gelesen. 1942 wurde er zur Erschießung verurteilt. Da mein Vater alle Anschuldigungen von sich wies, wurde das Urteil zunächst nicht vollzogen. Ein Jahr saß er im Moskauer Gefängnis, danach brachte man ihn nach Tatarstan, wo seine Anklage noch einmal geprüft wurde. Am 10. Dezember 1943 wurde er erschossen. 1956 wurde er rehabilitiert, mangels Beweisen.

Wie ging Ihre Mutter mit dieser Situation um?

Meine Mutter Olga ist am Tag meiner Geburt gestorben. Ich bin das dritte Kind in der Familie; wir lebten in einem ländlichen Bezirk auf der Krim. In meinem Geburtsjahr ging der Scharlach um, einen Monat nach meiner Geburt starben mein Bruder und meine Schwester. Aufgezogen wurde ich in erster Linie von meiner Tante Ella, die alle Aufgaben einer Pflegemutter übernahm. Sie hatte 1930 das pädagogische Institut in Odessa beendet und kehrte auf die Krim zurück, um dort zu arbeiten.

1936 heiratete mein Vater ein zweites Mal und zog nach Moskau. Zusammen mit meiner Tante und meiner Oma lebte ich in Feodossija, einer schönen Stadt an der Schwarzmeerküste. Für meine Familie war diese Zeit sehr schwer. Meine Großmutter hatte vier Söhne und mit Ausnahme meines Vaters, der in Moskau lebte, wurden alle verhaftet und erschossen. Meine Oma hat diesen Kummer nicht ertragen. Sie ist bald darauf krank geworden und gestorben. Später sind alle drei mangels Beweisen rehabilitiert worden. In Moskau ist mein Stiefbruder Valentin geboren worden, er lebt bis jetzt dort. Sein Sohn und mein Stiefneffe, Georg Boos, war lange Zeit Gouverneur der Stadt Kaliningrad.

Mit welchen Problemen kämpften Sie als Russlanddeutscher und Sonderumsiedler in Kasachstan?

1943 fand meine Tante Arbeit in der Kreisstadt Kasalinsk. Dort begann ich in der russischen Schule zu lernen, bis dahin besuchte ich im Aul die kasachische Schule. Daher kenne ich die kasachische Sprache auch sehr gut. 1949 beendete ich die Schule, eigentlich mit Auszeichnung. Aber die Goldene Medaille hat man mir nicht gegeben. Auch mein Abiturzeugnis bekam ich zunächst nicht ausgehändigt. Offen wurde nichts gesagt. Als ich endlich mein Abiturzeugnis bekam, stand da unverdient statt einer ausgezeichneten Note nur eine gute Note in Literatur.

Haben Sie es dennoch geschafft, sich rechtzeitig an der Universität einzuschreiben?

Mit 16 Jahren hatte ich damals als Sonderaussiedler eine Art Sonderausweis. Mit diesem musste ich mich jeden Monat auf der Kommandantur melden. Ich wollte gerne in Alma-Ata studieren, aber für die Fahrt dahin brauchte ich eine Erlaubnis. In dieser Frage hat mir wieder meine Tante geholfen, die als Pädagogin in der Stadt sehr angesehen war. Am 20. August traf ich in Almaty ein. Die Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen waren schon fast vorbei. Meine Entschuldigung, dass ich mein Abiturzeugnis nicht rechtzeitig bekommen konnte, wollte niemand akzeptieren. Ich wanderte durch die Wohnheime, wo meine Freunde wohnten.
Einmal begegnete ich einem Mütterchen, die mir eine Unterkunft im Halbkeller gegen eine symbolische Zahlung vermiete. Die Bedingungen waren da schrecklich: Schimmel, Schmutz, aber dennoch eine Unterkunft. Meine Tante half mir auch weiterhin. Dafür bin ich ihr grenzenlos dankbar. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft. Auch noch 1943 wurden Frauen in Arbeitslager gesteckt. Wie durch ein Wunder gelang es meiner Tante, diesem Schicksal zu entgehen.

Wie konnte Ihnen Ihre Tante in dieser Situation helfen?

Sie hat mir empfohlen, mich an meine Landsmännin Nina Kriwochischina zu halten, die ebenfalls die Schule in Kasalinsk beendet hatte. Das gute Mädchen war im Komitee des Kommunistischen Jugendverbandes (Komsomol) des Pädagogischen Abai-Instituts. Ich wurde als Gasthörer in dieses Institut aufgenommen. So begann ich zu studieren.
Zu der Zeit gab es an der physikalisch-mathematischen Fakultät im Unterschied zu anderen Fakultäten besonders viele freie Plätze. Deshalb wurden viele Studenten geradezu gezwungen, an dieser Fakultät zu studieren. Im Physikunterricht konnte ich schwierige Aufgaben lösen, was einem Dozenten auffiel. Er empfahl mir, mich an der physikalisch-mathematischen Fakultät der Kasachischen Kirow-Universität zu bewerben. Ich ging darum zum Dekan der Universität, für den Studienplatzwechsel war jedoch die Zustimmung des Rektors notwendig. Hunderte Studenten wollten zu ihm, deshalb konnte ich ihn erst Ende November sprechen. Ich erklärte ihm die ganze Situation und verschwieg auch nicht, dass ich ein Sonderumsiedler war. Kaum aber hörte der Rektor, dass ich ein Deutscher bin, schickte er mich sofort wieder heim.

Und dann?

Mein Physikdozent riet mir, in ein paar Monaten den Rektor erneut aufzusuchen. Diesmal sollte ich sagen, dass die Universität unter seiner Führung aufgeblüht sei, dass er ein bemerkenswerter Leiter sei und dass ich deshalb gerade an dieser Universität studieren möchte. So habe ich es auch gemacht. Der Rektor fühlte sich sehr geschmeichelt und unterschrieb meinen Antrag. Er stufte mich jedoch als Kandidaten ein. Damals unterschied man zwischen Studenten und Kandidaten; letztere bekamen zwar kein Stipendium, waren jedoch berechtigt, Vorlesungen zu besuchen und Prüfungen abzulegen.

Wie ging es mit dem Physikstudium weiter?

Ich kam jeden Tag spät nach Hause und saß von morgens bis tief in die Nacht hinein in der Bibliothek. Als Nahrung konnte ich mir nur Pastetchen mit Innereien und Tee leisten. Ich studierte sehr intensiv, bekam nur Einsen, aber trotz allem blieb ich zunächst in der Gruppe der Kandidaten. Erst im dritten Studienjahr durfte ich in die Gruppe der Studenten wechseln, im Studentenheim wohnen und ein Stipendium beziehen. Im dritten Studienjahr begann dann auch die Wahl von Vertiefungsfächern. Ich wollte gerne Nuklearphysik studieren, aber das ging nicht. „Nuklearphysik ist ein Geheimfach, und du bist Sonderaussiedler. Wähle theoretische Physik“, so sagte man mir.

Hat theoretische Physik Sie auch interessiert?

1953 begannen die Judenverfolgungen. Es wurde ein Erlass vorbereitet, demzufolge alle in der Sowjetunion lebenden Juden im Jüdischen Autonomen Gebiet Birobidschan anzusiedeln seien. Doch in diesem Jahr starb Josef Stalin, und die Umsiedlung wurde nicht durchgeführt. Dennoch waren viele Juden aus den Instituten entlassen worden. So auch ein jüdischer Professor aus dem Zentralen Aerodynamik-Institut in Moskau, der zu uns nach Almaty kam. Dieser sehr sachkundige Mann leitete den Lehrstuhl für Molekularphysik. Unter seiner Leitung beendete ich mein Studium mit Auszeichnung.

Stand es für Sie sofort fest, nach dem Studium in die Forschung zu gehen?

Zu der Sitzung, in der es um meine Zukunft ging, kam ich als erster, da ich mein Diplom mit Auszeichnung bestanden hatte. Auf die Frage, wo ich hinfahren möchte, antwortete ich, dass ich meine Ausbildung fortsetzen und gerne eine Doktorarbeit schreiben würde.

Die Ausschussmitglieder besprachen sich lange und teilten mir anschließend mit, dass der Physikunterricht in den Bezirksschulen schlecht gestaltet sei. Daher wäre es besser, wenn ich dort ein bis zwei Jahre Physik lehren würde. Daraufhin wurde ich dem Gebiet Schymkent zugeteilt.

Im letzten Studienjahr hatte ich bereits Physik an einer Abendschule unterrichtet, deshalb wandte ich mich an den Leiter der Lehrabteilung jener Schule Mussip Amirchanowitsch. Und da er Lehrer wie mich nötig hatte, konnte ich in Almaty bleiben. Aber es war für mich natürlich kränkend, dass viele meiner Kommilitonen, die viel schlechter als ich abgeschnitten hatten, schon jetzt mit ihrer Doktorarbeit beginnen durften.

1955 begann mit Chruschtschew die Periode des Tauwetters. Die Einschränkungen der Sonderaussiedler nahmen ab, und ich konnte mich an der Akademie der Wissenschaften Kasachstans vom Laboranten bis zum Akademiker hocharbeiten.

Die Hilfe und moralische Unterstützung einem nahestehenden Menschen verhelfen oft zum Erfolg im Leben. Herr Boos, berichten Sie über Ihre Familie.

Mit meiner Ehefrau Helene Edmundowna bin ich seit mehr als 50 Jahren zusammen. Sie ist Dozentin für Musik und hat das Konservatorium Almaty (Klavierabteilung) beendet. Wir hatten uns ganz zufällig kennengelernt: Als ich einmal am Fremdspracheninstitut vorbeiging, war dort, in der heutigen Töle-bi-Straße eine große Menschenansammlung. Es stellte sich heraus, dass Konservatoriumsstudenten da ein Konzert gaben. Dort lernte ich dann auch meine Lena kennen, die einfach entzückend Klavier spielte. Seit dieser Zeit kann uns nichts trennen. Wir haben zwei bemerkenswerte Söhne, beide sind Professoren. Einer lebt und arbeitet in Deutschland, der andere hat einen Lehrstuhl an der Moskauer Uni inne. Ich erwarte sie im August zu meinem Geburtstag.

Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit engagieren Sie sich auch für die Belange der Russlanddeutschen als Leiter des Wissenschaftlichen Verbandes der Deutschen Kasachstans.

Meine ehrenamtliche Arbeit begann vor vielen Jahren in der Gesellschaft „Snanije“, wo ich die deutsche Sektion leitete. Später gründete und leitete ich den Wissenschaftlichen Verband der Deutschen Kasachstans. Alle zwei Jahre halten wir eine wissenschaftliche Konferenz ab, wo verschiedene Wissenschaftler Kasachstans ihre Forschungen präsentieren. Im Oktober dieses Jahres wird die VIII. Konferenz stattfinden.

Ich bin der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kasachstan für die finanzielle Unterstützung dieser wissenschaftlich bedeutsamen Veranstaltung dankbar. Ich freue mich, dass es unter unseren Gelehrten auch jugendliche Forscher gibt. Deshalb haben wir bei der vorherigen Konferenz entschieden, einen Jugendsektor des Wissenschaftlichen Verbandes der Deutschen Kasachstans zu gründen, den nun der Kandidat der Wissenschaften Dmitri Moser leitet.

An welchen Projekten arbeiten Sie gerade?

Gegenwärtig arbeite ich mit dem Institut für Nuklearphysik in Karlsruhe zusammen. Wir wollen in Kasachstan eine neue Methode der Erfassung atmosphärischer Regengüsse einführen. Im April war ich in Karlsruhe, vor kurzem kamen die Experten eines Fonds zu uns. Jetzt warten wir auf die Finanzierung unseres Projektes.

Was bedeutet für Sie deutsche Identität?

In erster Linie verbinde ich mit ihr die Kenntnisse meiner deutschen Muttersprache. Dafür bin ich meiner Tante dankbar, die sich immer bemühte, mit mir deutsch zu sprechen. Meine Deutschkenntnisse helfen mir auch jetzt noch in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit.
Jedes Jahr verbringe ich etwa zwei Monate in Deutschland. Eine ausgezeichnete Möglichkeit, meine Sprachkenntnisse einzusetzen.

Wenn Sie an der Schwelle ihres 80. Geburtstags auf Ihr Leben zurückblicken, möchten Sie im Nachhinein, dass darin etwas anders gemacht worden wäre?

In erster Linie bin ich Realist, kein Fantast. Und selbst wenn ich etwas ändern wollte, so denke ich, dass alles auf das Gleiche hinauslaufen würde. Mein Leben war so, wie es war. Ungeachtet aller Schwierigkeiten habe ich mich dank meiner Beharrlichkeit und meinem Fleiß im Leben als Wissenschaftler behaupten können.

Interview: Olesja Klimenko, sinngemäße Übersetzung: Christine Karmann

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