Vom 2. bis 6. Juli 2012 fand in Almaty die VI. Zentralasiatische Medienwerkstatt statt. In dieser Zeit produzierten zentralasiatische Nachwuchsjournalisten gemeinsam mit erfahrenen deutschen Journalisten neben Podcasts fürs Internet auch eigene Artikel. DAZ präsentiert in dieser und den folgenden Ausgaben die Ergebnisse.

Die Zahl der Fahrräder auf den Straßen in Kasachstans Metropole Almaty entwickelt sich schneller als die Infrastruktur. Die Stadt unterstützt die Bürger mit kostenlosem Fahrradtraining und einem kleinen Fahrradweg. Um herauszufinden, ob das genug ist, haben wir mit Fahrradinitiativen und den Fahrradfahrern selbst gesprochen und uns die Situation vor Ort angeschaut.

Es ist 18:30 Uhr, Rush-Hour in Almaty. Tausende Autos verstopfen die breiten Prospekte, hupen, drängen sich in nicht existierende Spuren. Im einzigen Fahrradstadion Almatys am Rand des Gorki-Parks ist es dagegen ganz still. Anna Wolobujewa umklammert das Lenkrad ihres Fahrrads und steigt vorsichtig auf. Fahrradlehrer Sergej Guzaljuk greift an den Sattel und hält das Fahrrad fest. Die 45-Jährige zittert leicht, konzentriert sich und tritt in die Pedale. Sergej Guzaljuk lässt den Sattel los, sie fährt drei Meter, schwankt, kippt zur Seite, fängt sich mit dem linken Fuß ab und ruft erschrocken: „Oh Gott!“

20 Unfälle in fünf Monaten

Anna Wolobujewa gehört zu den vielen Einwohnern Almatys, die noch vor drei Jahren niemals aufs Fahrrad gestiegen wären. „Fahrradfahren boomt“, sagt Sergej Guzaljuk. Der 62-jährige Fahrradlehrer ist gleichzeitig Direktor des Veloklubs, der von der Stadt finanziert wird. „Zu uns kommen Kinder, Jugendliche, auch aus ärmeren Familien, oder berufstätige Erwachsene wie Anna, die noch nie auf einem Fahrrad saßen.“

Der Veloklub wurde 2010 auf Initiative der Stadtverwaltung und einer Gruppe Fahrradenthusiasten ins Leben gerufen. Anfänger können hier kostenlos Fahrradfahren lernen, Fortgeschrittene trainieren. Damit reagiert die Stadt auf die steigende Zahl der Fahrradfahr-Willigen. Die beiden Hauptprobleme der neuen Radler sind laut Sergej Guzaljuk zum einen, dass viele gar nicht Fahrradfahren können und zum anderen, dass die Autofahrer drängeln oder den Weg abschneiden. Laut offiziellen Angaben gab es in der ersten Jahreshälfte bis Ende Mai bereits 20 Unfälle, von denen zwei tödlich endeten.

Dauren Muslimow hat in den drei Jahren, in denen er zur Arbeit fährt, noch keinen Unfall gehabt. Er weiß, wie man als Fahrradfahrer auf Almatys Straßen überlebt: Als er morgens um sieben Uhr sein Haus im Wohngebiet am südwestlichen Stadtrand verlässt und auf sein rotschwarzes Mountainbike steigt, hat er einen Fahrradhelm auf dem Kopf. „Das wichtigste ist, die Verkehrsregeln zu beachten und vorausschauend zu fahren, zu erahnen, wo dich jemand nicht sehen könnte.“ Als er fünf Minuten später die Dschandossow-Straße entlangrauscht, gibt es allerdings kaum noch einen Autofahrer, der ihn übersehen könnte. Nachmittags auf dem Nachhauseweg wird er gut aufpassen müssen.

Bürger arbeiten selbst an Lösungen

„In Almaty mit anderthalb Millionen Einwohnern sind nach offiziellen Angaben mehr als 500.000 Autos angemeldet; das bedeutet, jeder dritte Einwohner besitzt eines“, erzählt die Ökologin Swetlana Spatar. Gemeinsam mit anderen engagierten Fahrradfahrern gründete sie 2005 die inoffizielle Bürgerinitiative „Velo-Almaty“ – mit dem Ziel, die Bedingungen für Fahrradfahrer in der Stadt zu verbessern. Ihre erste Aktion war ein offener Brief an das Akimat, in dem die Gruppe um den Aufbau einer Fahrradinfrastruktur bat. „Wir sammelten über tausend Unterschriften, die Medien berichteten darüber, und das Akimat antwortete uns – danke, wir werden Ihre Vorschläge im Auge behalten.“ Die Gruppe arbeitete weiter: „Wir haben aus eigener Tasche einen Spezialisten bezahlt, um ein Fahrradwegenetz auszuarbeiten. Diese Karte, die wir ebenfalls dem Akimat übergeben haben, löst speziell die Transportprobleme der Fahrradfahrer, sie verbindet die Wohngebiete mit dem Zentrum.“

Neue Fahrradwege in Planung

Erst Jahre später nahm das Akimat die Anregungen auf und baute 2010 auf dem Abai-Prospekt den ersten Fahrradweg der Stadt mit einer Länge von 2,5 Kilometern. Swetlana Spatar sieht die Bemühungen der Stadt skeptisch: „Unserer Meinung nach wurde das eher für den schönen Schein gemacht. Das sind vielleicht 0,1 Prozent dessen, um was wir gebeten haben.“

Der Direktor des Veloklubs, Sergej Guzaljuk, hat Verständnis für die Stadtplaner: „Es ist schwierig, überall im Zentrum nachträglich Fahrradwege zu bauen. Laut Aussage des Akims wird aber gerade ein Generalplan der Stadt erstellt.“ Für die neuen Hauptverkehrsstraßen seien Fahrradwege vorgesehen, allerdings ohne konkrete Termine, die Vorhaben befänden sich noch im Projektstadium.

Der Trend zum Fahrradfahren ist trotz der Gefahren ungebrochen, die Zahl der verkauften Fahrräder steigt jedes Jahr um 60 Prozent. Auch in die kleine Fahrradwerkstatt von Alexander Strelezki kommen immer mehr Kunden. Um sich zu professionalisieren, ist der 41-Jährige extra nach Prag geflogen und hat dort eine spezielle Fahrradmechaniker-Ausbildung durchlaufen.

Angst vor Diebstählen

Heute gibt es bereits über 50 Fahrradständer in der Stadt, die ersten haben die Mitglieder von Velo-Almaty selbst aufgestellt. Das ändert noch nichts am nächsten Problem, den Diebstählen. Dauren Muslimow hat für sich eine Lösung gefunden: Um 7:45 Uhr fährt er in die Tiefgarage im Gebäude, in dem seine Firma sitzt und kettet sein Fahrrad an eine Absperrung in der Ecke.

Seine Kollegen haben Respekt vor seinem Mut. Nicht jeder traut sich auf Almatys chaotische Straßen. Drei von Dauren Muslimows Freunden fahren wie er mit dem Fahrrad zur Arbeit, im Internetforum „Vse“ (Alle) suchen viele Fahrrad-Mitfahrer. Ob alleine oder zu fünft auf der Straße, die Infrastruktur ist nicht da und der Weg gefährlich.

Möglicherweise wird Anna Wolobujewa schneller bereit sein für die Fahrradwege als die Fahrradwege für sie. Nach dem Training ist die füllige Frau rot im Gesicht und verschwitzt – aber unheimlich motiviert. Genau wie Dauren Muslimow und die anderen Fahrradfahrer, die das Gefühl haben, dass die Autofahrer sogar etwas aufmerksamer geworden sind. Jetzt ist es an der Stadt, ihre radelnden Bürger zu schützen und die Stadt fahrradfreundlicher zu machen – wenn sie nicht will, dass die Fahrradfahrer ihre Motivation oder ihr Leben auf der Straße verlieren.

Von Mirsohid Alikulow, Julia Burkhardt und Alua Tlekina

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