Es existiert ein ganz zu Unrecht völlig unterschätzter Teil sowjetischer und postsowjetischer Architekturgeschichte: die Straßenunterführung!

Es war der 16. September 1959, als der erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Nikita Chruschtschow in Moskau höchstpersönlich die erste unterirdische Fußgängerunterführung nahe der Metrostation „Majakowskaja“ begutachtete und eröffnete. Kurz nach Josef Stalins Tod wehte noch immer der stalinistische Geist durch die breiten, neu angelegten Prospekte und um die prunksüchtigen Stalintürme, die das Gesicht Moskaus seit dem Generalplan zum Stadtumbau völlig veränderten.

Straßenunterführungen hatten nicht nur den profanen Zweck, die breiten Boulevards zu unterqueren und die Eingänge verschiedener Metrostationen zu verbinden. Sie gehörten von nun an zum Gesamtkonzept des sozialistischen Städtebaus, der nichts weniger wollte, als eine neue Welt für das sozialistische Proletariat zu erschaffen. In Leningrad entstand 1963 die erste Unterführung, in Kiew 1964.

Straßenunterführung
„Perechod“. Foto: Autor

Die erste Fußgängerunterführung Almatys befindet sich an der Kreuzung des Dostyk-Prospekts und des Abaj-Prospekts. Bis vor kurzem existierte an dieser Stelle sogar noch die charakteristische, senkrechte Leuchtstele mit der Inschrift „Perechod“ (Übergang), die einst an jeder Unterführung der Sowjetunion existiert hatte. Diese historische Stele wurde jedoch abmontiert, ihr Verbleib ist gänzlich unbekannt.

Als die Sowjetunion zusammenbrach und der Turbokapitalismus in dem ehemaligen sozialistischen Weltreich Einzug hielt, entstanden gerade in und um die einst großzügig angelegten Fußgängerunterführungen zahllose, kleine Geschäfte und Läden für jeden Krimskrams. Ganze unterirdische Basare wuchsen heran und unzählige Menschen erhofften sich durch die neuen Möglichkeiten des privaten Handels in den wirtschaftlich katastrophalen 90er Jahren ein kleines Einkommen zum Überleben.

Das Angebot reichte von selbstgebackenen Piroggen und Tschebureki über Damenunterwäsche bis zu raubkopierten Spielfilmen. In Zeiten der Smartphones und des mobilen Internets kamen in schier endloser Menge Ladekabel, Kopfhörer und Handyhüllen unterster Qualität hinzu.

Die Fußgängertunnel verdreckten und verfielen. Durch die Nutzung als Marktfläche für billigste Kleinstartikel war kaum noch eine Unterführung ihrem Zwecke entsprechend zu nutzen. In Moskau hielt dieser Zustand an, bis Sergej Sobjanin 2010 das Bürgermeisteramt Moskaus übernahm. In den folgenden Jahren befreite er Moskaus historische Fußgängerunterführungen in radikalen Aktionen wie den berüchtigten „Nächten der langen Baggerschaufeln“ von den zahllosen illegal errichteten Buden und Verkaufsständen. Das Moskau Sobjanins erblüht seither in neuer Frische und mit neuem Atem.

Inzwischen findet wohl auch Bauyrschan Baibek, der Bürgermeister von Almaty, großes Gefallen am Moskauer Vorbild. Im vergangenen Jahr bekam die Stadt bereits eine brandneue Flaniermeile, die Panfilow-Straße. Auch die Renovierung ganzer 48 Fußgängerunterführungen ist fast beendet. Sie wurden ausnahmslos von den kleinen Verkaufsräumen befreit und dienen heute als Gestaltungsfläche junger kasachischer Street-Art-Künstler. Ethno-Fusion-Musik erschallt nun in den hellen, sauberen Tunneln und präsentiert urbanes Lebensgefühl. Die Künstler setzen sich in ihren Wandgraffiti auf verschiedene Weise mit der kasachischen Identität auseinander.

Poeten und Intellektuelle der kasachischen Geschichte werden modern interpretiert, Zitate berühmter kasachischer Schriftsteller sind an den Wänden zu finden. Jede Unterführung hat ihr eigenes Thema, eine ehrt sogar die allzu früh aus dem Leben geschiedenen Helden der kasachischen Öffentlichkeit, wie Wiktor Zoi von der Band Kino, den Musiker Batyrchan Schukenov oder den erst kürzlich so tragisch verstorbenen Eiskunstläufer Denis Ten. Die Fußgängerunterführungen aber erblühen von neuem, sie haben ein drittes Leben erhalten, ohne sowjetische Ideologie und ohne postsowjetisches Marktbudenchaos, aber als moderne Interpretation eines kasachischen Selbstverständnisses.

Philipp Dippl

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