Dr. Irina Hetsch hat viele Jahre im Rahmen des Förderprogramms für die deutsche Minderheit im postsowjetischen Raum gearbeitet. Sie war Leiterin des Berufs- und Informationszentrums in Moskau und Direktorin des Deutsch-Russischen Hauses in Russland. Seit Februar 2009 war sie Verantwortliche des Förderprogramms für die deutsche Minderheit in Zentralasien. Mit der DAZ teilt sie ihre Eindrücke von ihrer Arbeit in Kasachstan.

Frau Dr. Hetsch, Sie haben fünf Jahre im Rahmen des Förderprogrammes für die deutsche Minderheit in Kasachstan gearbeitet. Davor haben Sie einige Jahre in Russland gelebt. Ist es Ihnen schwer gefallen, sich angesichts der neuen Bedingungen umzustellen?

In Russland war ich für das Deutsch-Russische Haus verantwortlich. Ich habe dort die Programmarbeit für Zentralrussland und den Nordwesten des Landes koordiniert sowie das überregionale Bildungs- und Informationszentrum (BIZ) geleitet. Schon damals war die Übergabe der Projektaktivitäten in die Hände der Selbstorganisation der Deutschen Minderheit im Gespräch und wurde in „meiner“ Region als „Pilotprojekt“ begonnen. Dahingehend war sich die Arbeit in beiden Ländern grundlegend ähnlich, obwohl es natürlich auch wesentliche Unterschiede gab. Rückblickend kann ich sagen, dass mir die Umstellung auf die Arbeit hier in Kasachstan nicht besonders schwer gefallen ist und ich mich schnell einarbeiten konnte. Durch meine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der deutschen Minderheit in Russland kannte ich bereits die Geschichte der „sowjetischen Deutschen“, die Besonderheiten und Nuancen ihrer Organisationen. Zudem hat mir dabei das Team der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) – gut ausgebildete Experten die ihre Arbeit verstehen und lieben – in welches ich hineinkam, sehr geholfen. Schließlich kam mir auch zugute, dass meine Vorgängerin, Dr. Annegret Westphal, als Verantwortliche des Programms für Zentralasien in der GIZ in Berlin eingesetzt wurde. Sie kannte das Programm und die Region im Detail, hatte gute persönliche Kontakte zu den Vorsitzenden der regionalen Gesellschaften, wusste um ihre Probleme und die Nuancen ihrer Arbeit.

So konnte ich mich ausschließlich auf die vor mir stehenden Aufgaben konzentrieren: die Koordination des Förderprogramms der Deutschen Minderheit in Zentralasien – also in den Ländern Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan – und die Beratung der Organisationen der Deutschen Minderheit dort. Letzteres betraf dann besonders die Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen der Deutschen Kasachstans (AgVDK), der schrittweise die durch das deutsche Bundes-

innenministerium finanzierte Projektarbeit übertragen wurde. Hierbei war wichtig, alle deutschen Vorgaben zu garantieren. Schließlich sind es die Gelder des deutschen Steuerzahlers, mit denen das Programm finanziert wird, also müssen bestimmte Regeln und Standards eingehalten werden – nicht nur bei Abrechnungen, sondern auch bezüglich inhaltlicher Fragen – also vom Projektantrag über die Umsetzung der Maßnahmen bis hin zu den Berichten dazu.

Was würden Sie, rückblickend auf die Arbeit im Programm, zur Deutschen Minderheit in Kasachstan gerne anmerken?

Das Prinzip, dass die finanziellen Mittel aus Deutschland „nur“ als Co-Finanzierung der deutschen Seite zur gemeinsamen Sache der Deutschen Kasachstans gedacht sind, greift leider noch nicht immer. Die AgVDK ist heute eine formal gefestigte, ausgebildete Struktur, deren Gründer mehrheitlich eine bestimmte Satzung angenommen haben. Die Struktur wird momentan aber vor allem über die finanziellen Hebel des Büros der AgVDK zusammengehalten – gespeist v.a. aus dem Beitrag aus Deutschland – und nicht durch bewusste Eigenbeiträge der Mitglieder. Letztere werden sich nur aus dem real empfundenen Mehrwert der Gesamtorganisation für die Einzelorganisationen ergeben. Der nachhaltige Zusammenhalt der Struktur zur Absicherung einer eigenständigen Interessensvertretung muss auch durch gemeinsame Werte und Ideen erfolgen, die von allen mitgetragen werden. Die Frage ihrer Weiterentwicklung hängt von jedem ab – nicht nur von dem Niveau der aktiven Arbeit vor Ort, sondern auch von der Diskussion und Entscheidung zu allgemeinen Fragen. Es ist völlig normal, dass verschiedene Meinungen und Lösungsansätze existieren. Dabei wäre es aber wichtig, eine Atmosphäre in der Organisation zu schaffen, die es zulässt, diese offen zu benennen und zu besprechen, um da, wo nötig, im gemeinsamen Interesse Kompromisse zu finden.

Passend dazu habe ich schon in Russland – wo die Situation in dieser Hinsicht ähnlich war – gerne das Zitat eines österreichischen Autors zitiert: „Lasst uns aus den Steinen, die wir uns in den Weg legen, nicht Mauern, sondern Brücken bauen.“

Die Deutschen Kasachstans „bauen Brücken zwischen Kasachstan und Deutschland“, zwischen sich ziehen sie aber manchmal leider Mauern hoch. So wird es schwer sein, gemeinsame Ziele zu erreichen.

Ich würde auch gerne über das Thema nationale Identität sprechen. Zweifelsohne ist es wichtig, seine Wurzeln, seine Sprache und Geschichte zu kennen. Auch dazu hab ich gerne zitiert: „Tradition ist nicht zuvörderst das Bewahren der Asche, sondern das Weitertragen des Feuers“. Im Interesse der Perspektiven der deutschen Minderheit ist es wichtig, nicht bei dem stehen zu bleiben, was die Vorfahren gemacht haben, sondern auch etwas Neues aus der sich schnell verändernden Gesellschaft aufzunehmen. Es ist toll, zu sehen, dass sich die Jugend sich für ihre Wurzeln interessiert und trotz vieler anderer Angebote Zeit für gesellschaftliches Engagement findet. Dazu werden sie durch die unterschiedlichen Projekte, seien es Sprach- oder thematische Jugendcamps, Jugendakademien, Festivals usw. motiviert. Den Jugendlichen die Möglichkeiten zu kollektiven, emotionalen Erlebnisse zu geben, ist sehr wichtig, auch damit sie durch ihr gemeinsames Handeln, Erlebnisse und Diskussionen ihre Perspektiven sehen und sich dafür engagieren.

Was hat Sie besonders beeindruckt bei ihrer Arbeit?

Zunächst hat mich natürlich das Ausmaß der sozialen Arbeit, ihre Strukturiertheit und das Image, welches dadurch innerhalb Kasachstans für die ethnischen Deutschen insgesamt geschaffen wurde, beeindruckt. In diesem Maße hat es das in Russland nicht gegeben. Diese Arbeit wurde von deutscher Seite finanziell und professionell in Zentralasien lange am stärksten unterstützt. Wenn man in die Augen der Menschen blickt, die diese Hilfe bekommen, versteht man auch warum. Traditionell leben die Angehörigen der Titularnationen in Kasachstan, Usbekistan und Kirgisistan zusammen in großen Familien. Auch Ältere und Invaliden haben normalerweise jemanden, der sich um sie kümmert. Bei den Deutschstämmigen ist es meist anders. Sie leben verstreut, viele Ältere sind allein, die Verwandten, nach Deutschland oder Russland ausgewandert. Diese Menschen benötigen die Hilfe der in den sozialen Projekten engagierten Menschen in den Gesellschaften der Deutschen. Die Sozial- und Pflegekräfte leisten eine enorme Arbeit: Es gibt Sozialstationen und -apotheken, Suppenküchen, Betreuung von Kranken, Behinderten und einsamen Menschen, Organisation von Kuren, Finanzierung von Heilbehandlungen, Operationen, Hilfspaketen und vieles mehr.

Bemerkenswert hier, dass es in letzter Zeit mehr gemeinsame Projekte aus dem sozialen Bereich mit den Jugendclubs der Deutschen Minderheit gab. Solche Projekte wirken auch Generationen verbindend. Wenn die Menschen der älteren Generationen ihre oft leidvollen Erfahrungen, aber auch ihre Lebensweisheiten an die Jugend direkt weitergeben können, dann wird „das Feuer … weitergetragen“.

Welche Projekte, die im Rahmen des Förderprogramms der deutschen Minderheit realisiert wurden, haben Ihrer Ansicht nach die größten Perspektiven?

Ich würde sagen, dass alle Projekte innerhalb des Programms wichtig und zukunftsträchtig sind. Zu Beginn des Programms vor mehr als 20 Jahren, dachte man wahrscheinlich nicht, dass es auf sehr lange Sicht notwendig wäre. Denn es war anfangs als eine Art Wiedergutmachung für die Deutschstämmigen in Osteuropa gedacht, die durch den Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion unter der Folgereaktion darauf gelitten haben und auch später in den Herkunftsländern verbleiben wollten oder mussten. Deutschland hat sie unterstützt, aus Anerkennung seiner historischen Verantwortung. Doch diese Generation verschwindet langsam, nach der alten Logik hätte das Förderprogramm ebenfalls irgendwann eingestellt werden müssen. Seit 2000 stehen aber die Perspektiven der Deutschen Minderheit in den Herkunftsländern im Mittelpunkt der Förderung durch die Bundesrepublik, also die Bewahrung und weitere Entwicklung der ethnischen Identität, die Stärkung der Selbstverantwortlichkeit für ihr Schicksal in den Herkunftsländern, einhergehend damit die Stärkung der Selbstorganisationen sowie die Brückenfunktion der Deutschen Minderheit für die Beziehungen zwischen Deutschland und den Herkunftsländern.

Im Fokus stehen daher unter anderem die Förderung der Jugend und die Herausbildung neuer Eliten. Ohne eine genügend starke nachfolgende Generation und ohne eine kritische Masse von herausragenden Personen haben einzelne ethnische Gruppen in jeglicher Gesellschaft kaum eine langfristige Perspektive auf Nichtassimilation. Im Moment versteht die AgVDK-Führung unter dem Begriff Elite vor allem die Aktivisten und Führungskräfte der gesellschaftlichen Organisationen der Deutschen Minderheit, worauf dann auch die Förderung einseitig konzentriert ist. In der gemeinsam erarbeiteten Konzeption der Eliteförderung liegt allerdings noch ein weiterer Grundgedanke. Die deutsche Minderheit wird in der Gesellschaft nicht in erster Linie erkennbar durch Funktionäre und Aktivisten gesellschaftlicher Organisationen, sondern wesentlich auch durch herausragende Vertreter der Wissenschaft, Kultur, bekannte Politiker, Sportler und sozial engagierte Unternehmer. Da den Deutschstämmigen lange Zeit der Zutritt zu bestimmten Hochschulen verwehrt war und das Bildungsniveau daher für die perspektivische eigenständige Entwicklung insgesamt zu niedrig lag, sollte durch Stipendien und Zuschüsse zum Studium, zur Teilnahme an Konferenzen, Ausstellungen, Wettbewerben usw. finanzielle Förderung erfolgen und zwar so, dass sich in all den genannten Richtungen herausragende Persönlichkeiten entwickeln können.

Gemeinsame Projekte zwischen den Deutschen Kasachstans, Kirgisistans und Usbekistans haben ebenfalls großes Potenzial. Hier könnte Kasachstan Vorreiter und Initiator sein, da die Deutschen Kasachstans auf Grund ihrer relativ hohen Anzahl das umfangreichste Förderbudget zur Verfügung haben. Überregionale Projekte sind besonders wichtig für die Jugendlichen aus Kirgisistan und Usbekistan, um Ihnen die Möglichkeit eines besseren Austausches zu geben, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Region zu schaffen und ihren Horizont zu erweitern.

Eine letzte Frage: Was werden Sie am meisten vermissen?

Ich werde meine Kollegen und Kolleginnen der GIZ vermissen und auch die vielen hervorragenden Menschen und „Sachen“, die ich in den regionalen Gesellschaften der Deutschen Kasachstans kennen gelernt habe. Ich möchte niemanden beleidigen, falls ich jetzt jemanden vergesse, es gibt wirklich zu viel in Kasachstan, was emotional beeindruckend und unvergesslich war und nicht alles hier Platz hat: Also, ich werde das Jugend- und Sozialtheater der deutschen Gesellschaft in Astana vermissen, die Jugendcamps, in denen ich tolle, engagierte junge Menschen kennengelernt habe, bei denen man spüren konnte, dass sie in den Begegnungszentren der Deutschen Gesellschaften groß geworden sind – gebildet, höflich, natürlich, ehrlich und motiviert sich zu engagieren. Die Begegnungszentren sind nun mal wie eine große Familie, ihre Leiter und Leiterinnen – wie Eltern und Freunde. Sei es in Taldykurgan, Pawlodar, Karaganda, Schymkent, Taras, Kostanai, Astana, ……

Das Wichtigste ist, dass ich ruhigen Gewissens meine Arbeit hier beende, da ich sie in gute und verantwortungsvolle Hände übergebe: meiner Kolleginnen der GIZ sowie auch der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Büros der AgVDK im Deutschen Haus in Almaty.

Interview: Olesja Klimenko

Übersetzung: Dominik Vorhölter

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