Das Stück „Gesalzene Wassermelonen“ ist ein eindrückliches Dokumentartheater über die Geschichte der Kasachstandeutschen, dass im Mai uraufgeführt wurde. Der Artikel erschien zuerst in der Allgemeinen Deutschen Zeitung. Wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Für eine Theateraufführung ist dies ein sehr ungewöhnlicher Ablauf: Zunächst werden die 15 Theaterbesucher am Eingangstor zum Werkgelände der Chemie-Spedition Imperial in Wolfenbüttel abgeholt. Nach einem Spaziergang in der Abendsonne, vorbei an menschenleeren Industriehallen, erreichen sie das Werkgleis des Unternehmens. Schon die Geräuschkulisse macht neugierig: Man hört aufgeregte Stimmen, Frauengesang, herunterkrachende Holzklötze und etwas, das wie ein Presslufthammer klingt.

Auch visuell überrascht der „Theatersaal“: Er besteht aus vier schlichten Viehwaggons – sonst nichts. Eine junge Frau in verstaubter Arbeitskleidung winkt das Publikum herein in den ersten Waggon. Sie trägt eine dicke, erdfarbene Wattejacke, wie man sie aus Bildern von sowjetischen Kriegsgefangenen kennt. Die junge Schauspielerin spielt ihre Szene mit großer Intensität. Ihre Aussprache lässt erraten, dass sie im russischsprachigen Raum zuhause ist. Das „Bühnenbild“ besteht aus dunkelbrauner Erde und zusammengerollten Rasenstücken. Es geht um Deportation, Sibirien, um das Übernachten in Erdlöchern, das Bauen einer Hütte mit baren Händen, Schwerstarbeit bei klirrender Kälte bis zu minus 40 Grad Celsius.

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All dies sind Motive, die man auch aus den Zeitzeugenberichten der deutschen „Russlanddeportierten“ aus Rumänien kennt. Viele deutsche Minderheiten teilten in den 1940er Jahren ein ähnliches Schicksal. Das Theaterstück „Gesalzene Wassermelonen“, das im Rahmen des diesjährigen Lessingfestivals in Wolfenbüttel Premiere feierte, handelt von den Erlebnissen der Russlanddeutschen unter der Herrschaft Stalins. Der Autor und Regisseur Jens-Erwin Siemssen vom Theaterensemble „Das Letzte Kleinod“ hat sich in Vorbereitung auf das Dokumentartheaterstück zunächst auf Spurensuche in die ehemalige Sowjetunion begeben und hat Angehörige der deutschen Minderheit in Kasachstan interviewt. Aus den Zeitzeugenberichten über die Zwangsdeportation ist die Theatervorstellung entwickelt worden. Das Stück ist eine Kooperation mit dem Deutschen Theater Kasachstan in Almaty.

Es nimmt die Geschichte einer Gemeinschaft unter die Lupe, die sich im 18. Jahrhundert formierte. Menschen aus dem deutschen Sprachraum waren damals der Einladung der Kaiserin Katharina II. nach Russland gefolgt. Sie prägten die Gebiete an der Wolga, in der Ukraine, auf der Krim, im Kaukasus, doch ab dem späten 19. Jahrhundert verloren sie nach und nach ihre Privilegien. Schließlich bezichtigte Stalin die Deutschen der Kollaboration und ließ sie 1941 zur Zwangsarbeit innerhalb der Sowjetunion deportieren, was die Grundlagen des Gemeinschaftslebens zerstörte. Viele Russlanddeutsche entschlossen sich in den vergangenen Jahrzehnten zur Auswanderung nach Deutschland. Nicht selten ist in Zusammenhang mit dieser erneuten Integrationsleistung die Rede von einer gespaltenen Identität („Dort waren wir die Deutschen, hier sind wir die Russen“).

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Im Theaterstück „Gesalzene Wassermelonen“ symbolisieren Erde, Holz und Stroh die Armut der Deportierten, erzeugen aber auch einen unmittelbaren, sinnlichen Eindruck von ihren Erlebnissen. Dank kreativer Regie-Ideen gelingt es, mit sehr wenigen Gegenständen komplexe Lebensgeschichten greifbar zu verkörpern und eine überwältigende Stimmung zu erzeugen. Das Hacken und Sägen von Holz im Wald, die Ernte in der Kolchose, das Schaufeln von Kohle in einem Bergwerk, die Beschimpfungen als „Faschisten“, der Ausschluss aus der Gesellschaft, die Angst vor Verfolgern, aber auch Arbeitsunfälle, auf die kaum noch jemand reagiert, weil alle abgestumpft sind – all das wird eindrücklich und anrührend dargestellt. Die vier Szenen des Theaterabends enden stets mit Stalins Tod, bei dem alle weinen, aber niemand wirklich traurig ist. Das Publikum darf im Anschluss sogar die gesalzenen Wassermelonen probieren, die eine beliebte regionale Spezialität sind und im Theaterstück selbst nur als äußerst seltenes Festessen, als Symbol einer nicht vorhandenen Normalität vorkommen. Zum Gelingen der Aufführung trägt auch bei, dass die vier Schauspieler (Sergius Buckmeier, Sheila Issabekova, Elisabeth Müller, Margarita Wiesner) in beiden Kulturen und beiden Muttersprachen zuhause sind. Die Musik besteht aus Liedern mit deutschem und russischem Text und wird von dem Chor des Spätaussiedlertreffs der Gemeinde Weddel „live“ gesungen.

Das Besondere am Ensemble „Das letzte Kleinod“ ist der Theaterzug, der von Station zu Station fährt und der als Theaterbühne, aber auch als Arbeits- und Schlafraum, als Kantine, Studio, Werkstatt und Lager für die Theatertechnik genutzt wird. Flucht, Migration, Exodus, Heimweh spielen in den Aufführungen stets eine zentrale Rolle. Neben dem Stück „Gesalzene Wassermelonen“ werden in diesem Jahr dokumentarische Theatervorstellungen über das Exil des deutschen Kaisers Wilhelm II. in den Niederlanden und über den Alltag in Afghanistan gezeigt.

Christine Chiriac

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