Meine Stadt schmückt sich für den Frühling. Die tausendfach vorhandenen, sich zeitlupenartig bewegenden, in orangefarbene Signalwesten bemäntelten Eisaufhacker und Schneewegkehrer sind nicht rechtzeitig fertig geworden. Und jetzt ist es März.

Es schneit, es taut, es friert, es schneit, es regnet, es taut, es regnet, es friert, es taut. Dort, wo es Almaty unter die zehn dreckigsten Städte geschafft hat, sollte Astana unter den zehn matschigsten stehen. Wenn ich den Prospekt Respubliki entlang laufe, komme ich schon deshalb zu spät zur Arbeit ins Sprachlernzentrum, weil ich fasziniert an den Querstraßen stehen bleiben muss, und es einfach nicht fassen kann. Der Matsch, das Wasser, die Eisreste stehen bewegungslos auf dem Asphalt. Der Fußgänger, auf den Straßen Astanas am unteren Ende der Nahrungskette, hat den Zapfen, oder, passender: den Tropfen. Ich überlege, ob ich mir Gummistiefel kaufe. Nun habe ich nach Astana meine Schneeschuhe, meine Lammfellstiefel und meine Spikes mitgenommen – die Gummistiefel nicht. Ich sollte welche tragen, schon um den angewiderten Ausdruck über diese modische Abartigkeit auf den Gesichtern meiner mir entgegenkommenden kasachstanischen Geschlechtsgenossinnen lesen zu können. Sie stöckeln seit meiner Ankunft im Oktober in den gleichen hochhackigen, Sexualität ausstrahlenden kniehohen Stiefelchen durch den März-Matsch wie über das Januar-Glatteis.

Ein in der deutschen Jugendsprache verbreitetes Wort für „hinfallen” ist die sehr kreative Wortbildung „sich erden”. In Astana gibt es zu jeder Jahrezeit mannigfaltige Möglichkeiten, sich zu erden. An regnerischen Oktobertagen rutschst du aus auf dem von Autos und Baufahrzeugen glattgefahrenen Straßenschlamm. Im November beginnt es zu schneien, der Schnee friert zu Eis, du fällst hin. Auf den Hauptstraßen und –plätzen der Stadt hackt man den Schnee auf, kehrt ihn weg, die Hochglanzfliesen vor den repräsentativen Institutionen werden freigelegt. Während du auf ihnen ausrutschst, denkst du zum ersten Mal „Wer ist nur auf diese Idee gekommen…”. Nun, im März, bekommst du noch nasse Füße, bevor du in eine Dreckspfütze fällst. Einmal habe ich gelesen, dass ein Autofahrer in Deutschland einem Fußgänger die Reinigung seiner Kleidung bezahlen muss, wenn diese durch aufspritzendes Straßenrandwasser beschmutzt wurde. Die Astanaer Autofahrer würden sich kaputt lachen, wenn sie das hörten.

Auch meine Kolleginnen schimpfen über das Wetter. Das wundert mich. Seit vielen Jahren leben sie in Astana, kennen den Wind, die Kälte, den Frühlingsmatsch. Im Januar brachten sie es sogar fertig zu frieren! Bisher hatte ich gedacht, Wetter sei eine Frage der Gewöhnung und der Einstellung. Den kasachischen Winter fürchtend, packte ich mich monatelang so dick ein, dass ich zwanzig Kilo schwerer aussah als gewöhnlich. Ich glaube, auf den Straßen Astanas gab es keinen Menschen, der so viel anhatte und ähnlich robuste Winterschuhe trug wie ich. Während ich mich zu Hause anzog, brach mir der Schweiß aus, und mir wurde schwarz vor Augen.

Nun aber wird Frühling. Die Treppe vor unserem Sprachlernzentrum ist abwechselnd verschneit, vereist oder verregnet. Wenn der Hausmeister nicht rechtzeitig kommen kann, hacke ich die tauenden Winterreste mit einer Schaufel weg und streue Kochsalz. Das ist die einzige Zeit des Tages, an der ich nicht reden und nicht denken muss. Vor einer Woche ging meine Schippe kaputt. Die Jungs, die unter unserem Sprachlernzentrum in einer Werkstatt arbeiten, bemerkten es, sahen eine Weile zu, wie ich mich bemühte, lachten wahrscheinlich über mich, wie ich im Röckchen auf den Stufen hockte, und kamen schließlich mit Schrauben und Akkubohrer, um meine Schippe zu reparieren. Ich vergesse nicht, dass auch diese Momente in das Winterkapitel Astana gehören. Und wenn ich hingefallen bin, hat mich auch immer wieder jemand aufgehoben.

Maria Reinhardt

21/03/08

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