Pastor Gennadi ist groß und sonnengebräunt, in diesem Jahr wird er 72 Jahre alt. Einige Redaktionsmitglieder der DAZ machen mit ihm einen Ausflug zum Schimbulak, einem beliebten Ausflugsziel in den Bergen bei Almaty, das er regelmäßig aufsucht. Dort erzählt er uns von seinem Leben und beantwortet Fragen im Jahr der Reformation. Gennadi Honin spricht auf Englisch mit US-amerikanischem Akzent und flicht immer wieder deutsche Wörter ein. Er lacht viel, selbst, wenn er über Ernstes spricht.

Die evangelisch-lutherische Gemeinde in Almaty wird heute von Pastor Gennadi Honin geleitet. Sie ist nicht mehr so groß, wie sie einst war. 1990 zählte sie noch 2.000 Mitglieder, von ihnen sind aber die meisten nach Deutschland ausgesiedelt. Heute sind es weniger als 60 Menschen, die der Gemeinde noch angehören und an besonderen Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten in die Kirche gehen. Wirklich aktiv sind bloß noch 30 bis 40 von ihnen.

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In der Gemeinde heißt er für alle einfach Pastor Gennadi. Der Gottesdienst wird großteils auf Russisch abgehalten, manche Teile auch auf Deutsch. Nur wenige Teilnehmende des Gottesdienstes verstünden noch die deutsche Sprache, sagt der Pastor. „Ich halte den Gottesdienst auf Russisch und mein Helfer – Eugen Hildebrand, der auch Lektor bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung ist – liest die Bibel auf Deutsch vor. Denn wenn ich Deutsch spreche, wurde mir gesagt, habe ich einen furchtbaren US-amerikanischen Akzent, weil Englisch meine erste Fremdsprache ist.“ Pastor Gennadi lacht laut und sagt dann, wie zur Demonstration, sehr schnell das Vaterunser auf Deutsch auf.

Soldat, Physiker, Funker, Pastor

Pastor Gennadis Leben ist vom Wandel geprägt. In den 1960er Jahren war er als Jugendlicher beim Militär – drei Jahre waren Pflicht. „Das Militär ist eine sehr gute Schule für Männer“, resümiert er jene Zeit. Disziplin, körperliche Arbeit und regelmäßiges Essen hätten ihn erst zu dem Mann gemacht, der er heute sei. Dann hat er tagsüber als Assistent eines Professors gearbeitet und gleichzeitig an der Abenduniversität Physik studiert. Physik hatte ihn schon als Kind interessiert.

Ebenfalls früh hat er mit dem Funken begonnen – Kommunikation sei sehr wichtig, glaubt er. „Ich bin Amateurfunker“, sagt er stolz und zeigt uns Fotos, auf denen er zuhause vor seinem Gerät sitzt. Das Sende- und Empfangsgerät mit der Antenne hat er selbst zusammengebaut und sogar während der Sowjetzeit war er in der Lage, mit der Welt zu kommunizieren. Auf die Frage, warum er das gemacht habe, sagt er schlicht: „Weil es Spaß macht“, und lacht. „Es hilft auch dabei, Sprachen zu lernen.“ 1958 hat er damit angefangen und konnte zunächst lokale Radiosender empfangen. Später gab es Wettbewerbe: „Du funkst und stellst Kontakt zu so vielen anderen Ländern her, wie nur möglich. Bei der Meisterschaft der Sowjetunion von 1983 habe ich den ersten Platz gemacht.“ Flüssig singend macht er Morsezeichen nach.

Pastor Gennadi lernt nicht aus

Pastor Gennadi | Bild: Inés Noé

Wir sitzen in der Gondel, die uns hoch in das stadtnahe Skigebiet fährt. Durchgängig ist dieses leise Rattern des weit über dem Boden fahrenden Geräts, in dem wir schaukelnd sitzen, zu hören. Ein angenehmes Hintergrundgeräusch. „Sind Sie denn schon immer eine religiöse Person gewesen, auch, als Sie beim Militär waren?“, fragen wir ihn. „Ich habe an Gott geglaubt, aber nicht an Jesus Christus. Als ich ein Kind war, habe ich die Baptistenkirche besucht, das war die nächste von mir zuhause. Meine Eltern und selbst mein älterer Bruder waren Atheisten. Ich war das schwarze oder weiße Schaf.“

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Wir wollen von ihm wissen, warum er sich so spät im Leben noch dazu entschlossen hat, Pastor zu werden. „Ich habe mich nicht entschlossen. Er war es.“ Dabei richtet er seinen Zeigefinger nach oben und lacht.

„Er hat mich dazu gebracht.“ Als wir nachhaken, erklärt er: „Für jeden gibt es die richtige Zeit. Warum ist Jesus Christus so spät zur Erde gesandt worden? Weil erst dann die Zeit gekommen war, dass der Gottvater seinen eigenen Sohn auf die Erde schickte. Es ist nicht unsere Entscheidung.“ Er sei eben aus Vorsehung Pastor geworden.

„Während der Sowjetunion hatte ich keine Bibel, da sie ein verbotenes Buch war. Stalin hatte zum Ziel, den Namen Gottes aus den Köpfen der Bürger der Sowjetunion zu entfernen. Er hat jede Religion bekämpft. Aber er war erfolglos: 1971 habe ich zum ersten Mal die Bibel gelesen, weil ein befreundeter Pastor aus den USA sie mir nahegelegt hatte. 1991 habe ich durch das Funken mit meinem Freund, einem lutherischen Pastor, gesprochen. Er sagte, er würde nach Almaty kommen. Als er hier war, führte er mich in die lutherische Kirche ein, und ich wurde Mitglied.“

Die Anekdote, mit der seine Laufbahn als Pastor begonnen hat, erzählt er uns dann doch noch: „Als ich um die fünfzig Jahre alt war, habe ich einen Professor aus Indiana bei einem Seminar für religiöse Bildung unterstützt. Ich war dort als Assistent und habe bei Übersetzungen, Fragen und Antworten geholfen. Am Ende fragte mich der Professor, ob ich nicht Student bei ihm werden wolle. Ich sagte, ich wäre zu alt! Aber er hat dennoch darauf bestanden und daher fuhr ich in die USA zum Studieren.“

Dort, in Indiana, verteidigte er 2011 seinen Doktor – zum Thema evangelisch-lutherische Kirche in Kasachstan.

„Was ist der richtige Blick auf die Welt?“

Es klingt zunächst ungewöhnlich für uns, dass ein Physiker Pastor wird, und wir möchten wissen, ob diese beiden Wege, die Welt zu erschließen, für ihn denn zusammenpassen.

„Ich bin während meines Lebens vielen Wundern begegnet. Schaut her!“, sagt er, hält uns seine Hand hin und zeigt eine gelbe Stelle. „2000 Volt sind da durch meinen Körper gegangen. Das war im April 1976. Ich arbeitete gerade an meiner Radiostation und plötzlich habe ich in eine Hochspannungsleitung gefasst. Und da sah ich mich, wie ich euch jetzt sehe, von außen. Das hat sich angenehm angefühlt! Könnt ihr mir sagen, was passiert ist?“ Mit einer Stimme, die immer noch verwundert klingt, sagt er: „Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich erinnere mich. Ein Wunder. Vielleicht waren Engel bei mir und haben mir geholfen.“ Er lacht, obwohl er es sehr ernst meint. „Wer weiß das schon? Ich weiß es nicht.“ Dabei lässt er seine Hände aus der Höhe auf seine Schenkel klatschen, als Zeichen seiner großen Unwissenheit.

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„Es gibt nun mal ein paar offene Fragen, die wir nicht beantworten können. Du musst die Gegebenheiten einfach annehmen. Die Menschen erkennen nicht an, dass wir nur Gäste auf dieser Erde sind. Und sie vergessen etwas Wichtiges: Das Leben ist sehr kurz. Zwar wissen alle, dass wir sterblich sind, aber etwas Entscheidendes vergessen sie.“ Es entsteht eine kleine künstliche Pause durch das Rattern unserer Gondel. Dann fährt er fort: „Wir können plötzlich sterben, ohne jegliche Warnung.“ Er schnipst mit den Fingern. „Ja, für mich war es die Erfahrung mit der Elektrizität. Eine falsche Bewegung, und du bist in Gefahr. Daher ist für mich das Leben auf der Erde die Vorbereitung auf das Leben im Himmel.“

„Und glauben Sie, heute noch der zu sein, der sie einmal waren? Oder hat das neue Studium Ihre Mentalität verändert? Sind Sie noch immer Physiker oder sogar Soldat?“
„Schaut, unsere gesamte Welt ist wie ein Kristall mit vielen Facetten. Und jede Facette spiegelt einen Teil meines bisherigen Lebens wider: Physik, Militär usw. Durch meine Lebenserfahrung bin ich reicher geworden und ein wenig weiser. Ich will nicht engstirnig auf die Welt blicken.“

Ob er also viele Perspektiven auf die Welt habe, versuchen wir es weiter. „Was ist der richtige Blick auf die Welt?“, entgegnet er. „Die Antwort ist: Seiner, nicht unserer.“ Wieder zeigt er mit dem Zeigefinger in die Höhe, an die Gondeldecke.

Glaube als Festival

Pastor Gennadi und die evangelisch-lutherische Gemeinde in Almaty. | Bild: privat

Oben angekommen öffnen sich die Türen der Gondel, und wir steigen aus. Auf über 2000 Meter Höhe lassen wir die teuren Restaurants hinter uns, um spazieren zu gehen. Wir suchen einen Ausblick auf Almaty. Im Hintergrund ist nun das regelmäßige Klacken der Stöcke zu hören, auf die sich Pastor Gennadi beim Gehen stützt.

In Deutschland wird in diesem Jahr groß die Reformation gefeiert. Es wird Feste geben, Konzerte, Konferenzen, vielleicht kleine Souvenirs mit dem Gesicht Luthers. Welchen Platz nehmen die Feierlichkeiten des Jahres 2017 hier in Almaty, Kasachstan, ein – in der kleinen Gemeinde der evangelisch-lutherischen Kirche? „Wir werden dem Thema einige Konferenzen widmen. Es wird einen Kalender über die Reformation geben und wir werden sehr eng mit dem Deutschen Haus in Almaty zusammenarbeiten. Und natürlich wird es besondere Gottesdienste in der Kirche geben“, sagt Gennadi.

Auf die Frage, ob es wichtig sei, die Reformation groß zu feiern, hat er eine pragmatische Antwort: „Wichtiger ist es, jeden Sonntag den Gottesdienst zu begehen.“ Das Wort ‚Gottesdienst‘ sagt er dabei auf Deutsch und lacht. „Es gibt zwar bestimmte Termine, aber Leben ist Realität, nonstop.“ Fast trocken sagt er das und erzählt weiter: „Ja, die Menschen mögen Festivals. Aber Festivals sollten dafür da sein, eine Botschaft zu übermitteln. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Bild im Rahmen – der Rahmen sollte nur dafür da sein, die Bedeutung des Bildes hervorzuheben. Das ist mein Verständnis davon.“

„Wer ist Luther?“

„Luther ist ein großer Reformer. Und er hat uns unterschiedliche interessante Dinge zu sagen. Wir sollten die Reformation feiern, und Luther hat die menschliche Zivilisation in ein neues Zeitalter eingeleitet. Für mich ist das Wichtigste daran die spirituelle Freiheit, davor sind wir nur Sklaven gewesen.“

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Aber ob nicht der Kult, der um Luthers Figur heutzutage gemacht wird, menschengemacht sei – und in der Idealisierung nicht vielleicht die kritischen Aspekte um seine Person vergessen würden, fragen wir nach. „Das ist richtig“, antwortet uns Gennadi. „Die Bibel sagt: Jeder Mensch ist ein Lügner. Und für uns ist die Bibel die erste Quelle. Sie ist die Priorität, und christliche Literatur kommt erst später, inklusive Luther. Gute christliche Literatur sollte nicht im Widerspruch zur Bibel stehen.“

Mentale Bilder zur Erklärung

„Die Bibel sagt: Jeder Mensch ist ein Lügner.” | Bild: Inés Noé

In seiner Gemeinde würde er seine Gedanken gern verständlich machen. Doch wie? „Erklären. Aber manches ist sehr kompliziert. Komplexe Angelegenheiten zu vereinfachen ist immer schwierig, weil sie die Bedeutung verlieren, wenn du sie vereinfachst.“ Dabei würden Worte auf andere Weise helfen, so der Geistliche. „Menschen mögen Bilder. Es müssen nicht einmal sichtbare Bilder sein – mentale Bilder! Ich zeige den Gegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln. Das gleiche Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven. Wenn etwas zu kompliziert ist, musst du es von hier und von dort zeigen. Jede Person hat ihre Vorerfahrungen, ihr eigenes Leben – und wird verstehen, was du ihr durch ihre Erfahrungen zeigst, aber die musst du erst einmal kennen. Da gibt es ein Wort – und da gibt es dein Verständnis und mein Verständnis dessen“ – er hält seine Hände nebeneinander, mit einem Abstand dazwischen – „sie werden aber nie eins sein. Meine Arbeit ist es, herauszufinden…“

Dafür muss Honin die Menschen in seiner Gemeinde gut kennen. „Absolut – über ihre Ängste und Sorgen, über alles. Ich muss die ewigen Worte Gottes den Menschen überbringen und in ihr tägliches Leben einbringen. Dafür ist es gut, über eine Zukunft im Himmel zu sprechen, und so weiter.“

Fragen der Zeit

Als wir nach ein paar Stunden wieder in die Gondel steigen, sind wir alle von der Höhensonne etwas gebräunt. Die Luft war besser dort oben. Auf der Rückfahrt, bei der wir der Stadt wieder näher kommen, finden wir: Es war ein interessanter Ausflug. Drei Studentinnen – eine Journalistin, eine Kulturwissenschaftlerin, eine Architektin – und ein Pastor. Wir kommen nochmals auf Gennadis Arbeit zu sprechen. Er meint: „Unser menschlicher Verstand ist so begrenzt. Wir verstehen noch nicht einmal die Dinge, die auf Erden geschehen – wie sollten wir dann in der Lage sein, himmlische Dinge zu verstehen? Wir sind mit drei Dimensionen aufgewachsen: Hoch, tief und breit. Wir wissen nicht einmal, was Zeit heißt.“

Wir wollen trotzdem mehr wissen: „Sollte man keine Fragen stellen?“ „Oh doch“, antwortet er, „aber nur die richtigen Fragen. Ein dummer Mensch könnte eine Frage stellen, die ihm 1000 weise Menschen nicht beantworten könnten. Es gibt einige Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Kirche ist ein Wunder. Manche Menschen versuchen, sie zu rationalisieren. Doch: glaube wie ein Kind!“

Das Interview führten Diana Köhler und Inés Noé

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