Wie kommen wahre und erfundene Geschichten, neue Wörter und Unwörter in den Umlauf? Man weiß es nie so genau. Aber in jedem Fall lieben wir Menschen in unserem tristen Alltag den Klatsch und Tratsch. Unsere Kanäle sind für Skurriles und Absurdes, Unerhörtes und Unglaubliches eigentlich immer offen. Darum muss man sehr vorsichtig sein mit vorwitzigen oder leichtfertigen Äußerungen und gerade im politischen Geschehen ist ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Worte an sich geboten.

Ich kann derzeit mitverfolgen, wie sich durch fehlende Umsicht ein Unwort in den allgemeinen Wortschatz schlingelt. Und das passiert so: Projekte einer Institution engagieren sich für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. „Menschen mit Migrationshintergrund“ sind, zugegebenermaßen, ein sehr langes Wort, das einem nicht flüssig über die Lippen kommt, beziehungsweise viel Zeit in Anspruch nimmt, erst recht, wenn man sich den lieben langen Tag, von morgens bis abends, mit dieser Zielgruppe beschäftigt. Ständig muss man Papiere verfassen, Telefonate führen, E-Mails schreiben und Teamsitzungen abhalten, in denen man viele Male „Menschen mit Migrationshintergrund“ schreibt oder sagt.

Da man ständig dazu angehalten wird, effektiv und produktiv zu arbeiten, zu sparen und zu kürzen, liegt es nahe, an Worten zu sparen, um die Taten zu erhöhen. So hat eines Tages ein Mitarbeiter im Eifer des Gefechts, um seinen Gedankengang nicht zu bremsen, schnell mal „MmM“ in sein Dokument gehackt. Es hat sich nach dem soundsovielten Mal Schreiben fest in sein Hirn eingebrannt. Wenn er „MmM“ sieht, denkt er automatisch „Menschen mit Migrationshintergrund“ und so ging auch die Korrektur unverrichteter Dinge drüber hinweg.

Erst wunderten sich einige Kollegen, dann verstanden sie, schmunzelten und übernahmen das kreative Kürzel. Bei einem anderen Mitarbeiter waren nun Kreativität und Wettbewerbsgeist geweckt: „Aha, man kann also spielerisch mit vermeintlich feststehenden Begriffen umgehen und vielleicht geht’s ja noch kürzer, denn MmM schreibt sich schnell, spricht sich aber noch beschwerlich aus“. So prägte dieser wettbewerbsoffene Mitarbeiter das Kürzel „3M“, was denselben Pfad nahm wie der Vorläufer „MmM“. Nach kurzer Zeit des erneuten Rätselns, Schmunzelns, Gewöhnens ging der Begriff in den Wortschatz der Mitarbeiter über. Und der Durchbruch von intern zu extern war bestens vorbereitet. Unbemerkt schlingelte sich der Begriff 3M nun in die offiziellen Vorträge und Dokumente, wo aktuell wiederum der beschriebene Prozess durchgemacht wird.

Und jetzt, da ich diesen Beitrag schreibe, ist die Gefahr gegeben, dass der Begriff schneller als sonst nicht nur in Nordrhein-Westfalen und Deutschland benutzt wird, sondern international, fällt mir gerade auf. Ich rufe also explizit, laut und deutlich dazu auf, die Verwendung von „3M“ zu boykottieren, so lange wir noch den gebührenden Abstand der kritischen Reflexion wahren. Denn es ist eigentlich gar nicht schön, eher respektlos, eine Zielgruppe derart abzukürzen. 3M klingt nach einem Produkt, etwa ein Schokoriegel oder Büroutensil. Und andere Zielgruppen werden auch nicht abgekürzt, auch wenn sie meist kürzere Bezeichnungen haben, aber trotzdem!

Wir selbst sind ja auch leicht zu kränken, wenn wir nicht präzise bezeichnet und benannt werden. Die Doktoren unter uns bestehen auf ihrem Doktortitel. Und ein Herr Mayer besteht auf seinem „a“ und seinem „y“. Und da uns schon Kant gelehrt hat: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu (in etwas anderen Worten), sollte man Menschen mit Migrationshintergrund den gleichen Respekt zukommen lassen und sie immer und überall, intern und extern, bei ihrer ausgeschriebenen Bezeichnung benennen.

Julia Siebert

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