Für sie ist es der schönste Moment des Tages: Vor dem Schlafengehen noch 15 Minuten lesen und dann die Augen zumachen. Edda Schlager war schon immer eine Leseratte. Das ist zu spüren an der begeisterten Art, wie sie von Büchern spricht, wie sie sie anfasst und erst recht, wie sie aus ihnen vorliest. Und als sie den Buchumschlag wieder zuklappt, ist es unter den Besuchern der Bibliothek des Goethe-Instituts in Almaty ganz still geworden.

/Bild: Andrea Rüthel. ‚Traurig und gleichzeitig zum Lachen – Elke Heidenreichs Sicht auf das Leben’/

Es ist eine Mischung aus Märchenstunde und Landeskunde: Unter dem Motto „Deutsche stellen ihr Lieblingsbuch vor“ lesen Mitarbeiter und Freunde des Goethe-Instituts in Almaty jeden Monat aus den Büchern vor, die ihnen im Bibliotheksbestand besonders am Herz liegen. Eine Stunde lang werden sie zur Stimme der deutschen, Schweizer und österreichischen Autoren. Edda Schlager ist die Erste, die die Besucher der Goethe-Institut-Bibliothek Anfang April mit ihrer Lesebegeisterung ansteckt.

Frauenpower, die verbindet

Wann wird ein Autor zum Lieblingsautor? Bei Edda Schlager ist das klar. Elke Heidenreich und sie haben einiges gemeinsam. Beide sind Journalistinnen, beide lieben Literatur und vor allem: Beide Frauen haben eine starke Persönlichkeit. „Ich habe oft gespürt, dass es in der zentralasiatischen Kultur nicht verankert ist, laut und offen seine Meinung zu sagen“, sagt die junge Frau, die seit fünf Jahren in Almaty lebt. Alles fing an mit einem Praktikum bei der DAZ, heute berichtet sie als freie Journalistin für deutsche Medien aus Kasachstan und seinen Nachbarländern. Auch die deutsche Autorin Elke Heidenreich ist mit ihrer Offenheit oft angeeckt. Als sie 2008 den „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki unterstützte, der den deutschen Fernsehpreis nicht annehmen wollte, weil die Show doch nur „Blödsinn“ sei und das Niveau des deutschen Fernsehens sowieso in apokalyptische Tiefen gesunken sei, verlor sie prompt ihren Arbeitsplatz – mit ihrer Ehrlichkeit war sie ihrem Arbeitgeber, dem Fernsehsender ZDF, in den Rücken gefallen, der damals die Preisvergabe ausstrahlte. Sechs- bis achtmal im Jahr hatte sie hier in der Show „Lesen!“ ganz Deutschland ihre Buchtipps vorgestellt. „Elke Heidenreich war als Literaturkritikerin so angesehen, dass die Zuschauer nach der Sendung zu Tausenden die Buchläden einrannten, um sich die vorgestellten Bücher zu kaufen“, so Edda Schlager, die Elke Heidenreich selbst erst beim Fernsehschauen kennen lernte.

„Ich bin nach wie vor auf ihrer Seite“, sagt sie. Ihre Achtung vor der Autorin, Journalistin und Hobby-Musikerin ist hoch. So hoch, dass es sogar – wie offenbar sonst nicht – keine Rolle spielt, dass Edda Schlager selbst aus den neuen Bundesländern kommt, während Elke Heidenreich in Essen geboren wurde. Auch könnte die Autorin ihre Mutter sein. Aber der Humor ist der gleiche, das zählt.

Unkonventionell und generationsübergreifend: Die Liebe

Dann fängt Edda Schlager an zu lesen: Eine Kurzgeschichte. Noch mit 15 las sie aus Prinzip nur dicke Wälzer. „Ich war immer enttäuscht, wenn es nicht weiterging.“ Heute wundere sie das, denn bei Elke Heidenreich empfinde sie das Genre der Kurzgeschichte als große Kunst. „Die schönsten Jahre“ heißt die Geschichte. Es geht wie so oft bei Elke Heidenreich um die Liebe und um eine verkorkste Mutter-Tochter-Beziehung. Eine junge Journalistin fühlt sich von Kindheit an von der Mutter verstoßen. Liebeshungrig findet sie erst in der Mitte ihres Lebens ihr Glück: In den Armen einer Frau. Darüber entsteht auch zu der Mutter eine heimliche Annäherung, die erst ihren Ausdruck findet, als die Mutter schon gestorben ist: Ohne Worte vermacht Sie der Tochter das Geheimnis ihrer schönsten Jahre.
Der Saal schweigt, alle sind gerührt. Edda Schlager hat Tränen in den Augen. Ob das Thema gleichgeschlechtlicher Beziehungen nicht etwas ungewöhnlich sei, möchte das Publikum wissen. Der Dialog ist erwünscht, denn die Veranstaltung möchte die kasachstanischen Zuhörer schließlich mit den Themen der Deutschen vertraut machen. Edda Schlager verneint. Ihrer Einschätzung nach ist die Homosexualität in Deutschland bereits ein salonfähiges Sujet. „Außerdem“, sagt sie, „bricht Elke Heidenreich gerne mit den Konventionen.“

Edda Schlager schmunzelt: „Elke Heidenreichs Geschichten können Sie übrigens gleich ausleihen. Das heißt, wer schnell ist.“ Denn die Zuhörer sitzen schon in den Startlöchern, um eines der Bücher auf dem kleinen weißen Lesetisch zu ergattern – für die eigenen letzten 15 Minuten des Tages. Und als dann ein kleines Gedränge entsteht, ist es ein bisschen so, als hätte Elke Heidenreich selbst gerade ihren letzten Buchtipp über die Bildschirme geschickt.

Von Andrea Rüthel

09/04/10

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