Die Bewohner am Fuße des Alatau leben nicht nur mit der ständigen Bedrohung eines seit Jahren erwarteten großen Erdbebens. Gerade jetzt in den Sommermonaten steigt auch die Gefahr für Schlammlawinen, die sich aus den Bergen wie auf einer Rutschbahn durch die schmalen Täler bis in die Ortschaften am Fuße der Berge wälzen können

An den 14. Juli 1999 werden sich viele Einwohner von Almaty, die den Transili-Alatau wegen seiner unberührten Natur eigentlich als Ausflugsziel schätzen, nur mit Unbehagen erinnern. Denn an diesem Sommertag zeigte sich das Gebirge vor den Toren der Stadt von seiner bedrohlichen Seite. Völlig unvermittelt wälzte sich an jenem Mittwoch eine 375.000 Kubikmeter mächtige Schlammlawine durch das Kleine Almatinka-Tal – von Medeo vier Kilometer weit bergab, bis der Schutzdamm am Ortseingang von Almaty sie zum Stoppen brachte. Dass die vom Regenwasser aufgeweichten Erdmassen dabei lediglich eine Brücke mit sich rissen und kein Mensch zu Schaden kam, war ein außerordentlicher Glücksfall. Waren doch noch im Jahre 1963 bei einem ähnlich dramatischen Ereignis im Issyk-Tal fast 400 Menschen zu Tode gekommen.

Wenn seit 1999 auch keine ähnlich spektakuläre Schlammlawine mehr zu verzeichnen war, ist die Gefahr durch Muren, wie die Schlammmassen im Geographen-Deutsch heißen, nicht gebannt.

„Gerade jetzt, in den Sommermonaten von Juni bis August, steigt die Gefahr für große Schlammlawinen, die sich aus den Hochgebirgslagen bis hinab zum Gebirgsfuß wälzen können“, so Wadim Winochodow, stellvertretender Leiter der Abteilung für Murenschutz beim Kasachstanischen Ministerium für Notsituationen.

Dass die Gefahr ausgerechnet im Sommer so hoch ist und nicht im Frühjahr, wenn der Schnee wegtaut, erklärt Winochodow folgendermaßen: „In den Sommermonaten regnet es hier am meisten. Hinzu kommt, dass die Schneeschmelze in den Bergen, je nach Höhenlage, um bis zu vier Monate später stattfindet. So fällt jetzt in den Lagen über 2.000 Metern mit einem Mal sehr viel Wasser an. Es durchweicht den Boden und verursacht so die Schlammlawinen.“

Almaty liegt etwa 800 Meter über dem Meeresspiegel, das Vorland des Alatau auf 400 bis 1.000 Metern Höhe. Wie beim 4.973 Meter hohen Pik Talgar beträgt die Luftlinie zwischen dem Gebirgsfuß und den höchsten Gipfeln der Berge manchmal nur 15 Kilometer. Die Berghänge sind deshalb sehr steil – eine Situation, die für Erdrutsche und Schlammlawinen geradezu prädestiniert ist.

Hinzu kommen die sehr kalten Winter und die heißen Sommer – typisch für das kontinentale Klima weit entfernt von den Ozeanen. Die großen Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter, aber auch zwischen Tag und Nacht sorgen dafür, dass die Granite, aus dem der Nordrand des Tienshan zu großen Teilen besteht, stark verwittern. Ganze Felswände werden brüchig, große Gesteinsblöcke werden innerhalb weniger Jahrzehnte zermahlen. In den Bergen fällt so sehr viel lockerer Schutt an – von kleinsten Staubkörnern bis hin zu großen Gesteinsbrocken – der an den steilen Berghängen leicht ins Rutschen kommt.

Die starken Regenfälle im Sommer rühren daher, dass die von Westen heranziehenden feuchten Luftmassen von dem Gebirgsknoten, an dem sich Dschungarischer und Transili-Alatau treffen, aufgehalten werden und vor dem Gebirge abregnen. Kommt zur sommerlichen Schneeschmelze in den Bergen nun noch starker Regen, wird der Verwitterungsschutt derartig durchgeweicht, dass der Schlamm an den steilen Hängen keinen Halt mehr findet und durch die Täler wie auf einer „Bob-Bahn“ nach unten rutscht. Diese Vorgänge gehören in nahezu jedem Hochgebirge, im Alatau wie in den Alpen oder den Anden, zu den ganz normalen Erosionsvorgängen.

Da jedoch am Fuße des Alatau im Vergleich zu den Steppen weiter im Norden das Klima angenehmer ist, da ausreichend Wasser zur Verfügung steht und die Menschen hier Obst, Gemüse oder Getreide anbauen können, haben sich gerade hier viele Siedlungen entwickelt. Die Gefahr durch Schlammlawinen galt dabei als zu vernachlässigendes Risiko, das die Vorteile der Gegend nicht beschränkte.

Doch durch die globale Erwärmung könnte die Murengefahr in den nächsten Jahren ein größeres Problem werden. „Wir möchten keine genauen Prognosen darüber abgeben,“ so Winochodow. Aber er bestätigt, dass der Klimawandel auch im Alatau Folgen zeigt.

So ist in den letzten 20 Jahren der obere Bereich des Permafrostbodens in den Bergen aufgetaut, die Permafrostgebiete insgesamt nehmen ab. Das Problem in Südkasachstan sind die am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 10.000 Jahren angehäuften lockeren Sedimente, die bisher durch den Permafrost „eingefroren“ waren. Diese lockeren Sedimente, der so genannte Löß, sind eine Art feiner Sand, der aus den flachen Steppengebieten, hunderte Kilometer weit getragen wurde und sich an Hindernissen wie dem großen Bergmassiv des Tienschan ablagerte. Manche der Sedimentschichten sind bis zu mehreren Kilometern mächtig. Taut nun der Permafrostboden auf, wird der vorher betonharte Boden mit Wasser durchtränkt und das lockere Sediment verliert seine Stabilität. Selbst ein weniger steiler Berghang kann bei Regen dann schon zu einer tonig-schmierigen Rutschbahn werden, auf der der Schlamm nach unten gleitet.

Auch an den Gletschern im Tienschan geht der Klimawandel nicht folgenlos vorbei. So haben Wissenschaftler vom Geographischen Institut in Almaty und der Bayrischen Akademie der Wissenschaften den Tujuksu-Gletscher neu vermessen. Der Tujuksu im oberen Teil des Kleinen Almatinka-Tals ist der am längsten beobachtete Gletscher der Welt. Seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts werden regelmäßig Daten erfasst, so dass er eine einmalige Quelle bietet, um Veränderungen des Gletscherwachstums zu rekonstruieren. Nach ihren Untersuchungen gehen die Wissenschaftler mittlerweile davon aus, dass bei einem gleichbleibenden globalen Temperaturanstieg, wie er zur Zeit zu verzeichnen ist, der Tujuksu-Gletscher bis zum Jahr 2050 um die Hälfte abschmelzen wird.

Das heißt, dass in den Höhen über 3.000 Metern zum Schmelzwasser der winterlichen Schneedecke und zu den sommerlichen Regengüssen vermehrt auch Schmelzwasser aus den Gletschern hinzukommt. Oft sammelt sich das Gletscherwasser in kleinen natürlichen Stauseen vor dem Gletscher. Doch wenn ein solcher natürlicher Staudamm aus Geröll und Schutt bricht, können die Folgen im Tal verheerend sein.

Weil man sich bei der Murenschutzabteilung des Ministeriums für Notsituationen dieser Gefahr bewusst ist, werden die Gletscher und ihr Vorland beobachtet. „Wir kontrollieren regelmäßig, wieviel Wasser abfließt und ob sich Stauseen bilden“, so Winochodow.

Auch hat man in den letzten Jahren alle größeren Täler des Alatau mit Murenschutzanlagen versehen. Die großen Dämme im Talgar-Tal oder im Großen Almatinka-Tal sind kaum zu übersehen. Wer hier einen Stausee sucht, ist auf der falschen Spur. Die Bauwerke dienen einzig dem Schutz vor Schlammlawinen.

Dass die Lage unter Kontrolle ist, davon ist Winochodow überzeugt. Doch möglicherweise müssen auch neue Schutzstrategien in Erwägung gezogen werden: Der Tujuksu-Gletscher schrumpft seit 1990, und die Wissenschaftler sagen ein völliges Abschmelzen der Gletscher im Transili-Alatau für die nächsten 150 bis 200 Jahre vorher.

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