Es gibt sie immer noch: die „letzten Deutschen“ Zentralasiens. Ihre Siedlung Rot-Front liegt im Norden Kirgisistans. 1990 lebten hier 900 Deutschstämmige. Heute sind es noch 90. Sie versuchen in der unwirtlichen Gegend, die Stellung bis zum letzten Mann zu halten. Abgesegnet von ganz, ganz oben.

David Hoffmann rückt seine Schiebermütze auf dem Kopf zurecht und führt uns zu einem Gotteshaus. Es ist der Lebensmittelpunkt der deutschstämmigen Gemeinde in Rot-Front. Arbeit und Glaube – darum dreht sich das Leben der Verbliebenen seit hunderten von Jahren. Die Einwohner von Rot-Front leben nach streng mennonitischen Regeln, fast schon sektenartig. Fernsehen und Internet gibt es nicht, geheiratet wird nur untereinander. Zigaretten, Alkohol und Sex vor der Ehe sind tabu.

Eigenhändig erbauten sie nach der Genehmigung durch die Behörden das „Bethaus“, wie es in ihrem Sprachgebrauch richtig heißt. Hoffmann zeigt auf die Betonstufen, die er damals gegossen hat. Seine blauen Augen leuchten. Ein Teil von ihm scheint in diesem Gebäude zu stecken.

Im Himmel: oder so ähnlich

Noch immer in Gebrauch: die Bibel aus dem Jahr 1859.

1990 lebten 900 Deutschstämmige in Rot-Front. Doch das Dorf leert sich. Heute sind es noch 90. Hoffmann ist einer von ihnen, der ausharrt. Er ist ein freundlicher, älterer Herr. Wenn er spricht, blitzen seine silbernen Zähne auf, die das Originalgebiss komplett ersetzt haben. Kamen früher etwa 700 Personen in die Gottesdienste, die man auf Deutsch abhielt, sind es heute nur noch fünfzig, und auch die Sprache wurde durch das Russische ersetzt. Dabei bietet das Gotteshaus für viel mehr Menschen Platz.

Die Tradition und der Glaube sind das, woran sich die Verbliebenen klammern. Ein Blick in die Gesangbücher: Druckjahr 1892. Die Bibel im Gebrauch stammt noch von 1859. Das hängt wohl mit der Zeitlosigkeit der Worte Gottes zusammen – oder der Worte Luthers. Kommentare finden sich keine. Moderne Exegese? Fehlanzeige. In der Heiligen Schrift steht, wie man sich richtig verhält. Hier in Rot-Front dient sie eher als Leitfaden zum Überleben denn als philosophischer Gesprächsstoff.

Das Gotteshaus ist der sauberste Ort im ganzen Dorf. Fast wirkt es wie der Trostquell für das irdische Jammertal. Für die Notversorgung hat man einen Generator aus China angeschafft und die Gemeinde besitzt sogar einen eigenen Bus. Vieles an Gütern kommt aus Deutschland – vor allem durch Pakete von Verwandten dort.

Bei den Toten

Historische Fotografien hängen an den Wänden in den Kulturräumen der Kirche.

Der Friedhof von Rot-Front liegt am Dorfrand. Auf dem Weg dorthin passiert man unter anderem die ehemalige Schule und die alte Bäckerei – allesamt baufällige Ruinen seitdem die Zeit der Kolchosen vorüber ist. Hier liegen drei Generationen mennonitischer Aussiedler, inklusive Hoffmanns Verwandte.

Gott hat ihnen ein schönes Fleckchen Erde im Nichts der Steppe als Ruhebett zugedacht. Die auffallend vielen Kindergräber sind indes stumme Zeugen dafür, dass noch vor nicht allzu langer Zeit hier der Blutkrebs umging. Komplizierte Frage, die nach Gott! Drei kirgisischen Konvertiten hat man ebenfalls erlaubt, im protestantischen Todeshain ihre Grabstatt zu errichten, allerdings den deutschen Gotteskindern vorgelagert, in einem eigens umzäunten Bereich.

Dabei sind vor Gott doch alle Menschen gleich, so heißt es in der Bibel: Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott (Röm. 2, 11, Lutherübersetzung). Auf die Frage, was er denn von den neulich erbauten Moscheen im Dorf halte, erzählt Hoffmann von dem Kreis der Auserwählten, die ins Himmelreich eingehen werden.

Bei den Lebenden

Tierische Versorger.

Neben den landwirtschaftlichen Traditionen, die er pflegt, hat David sein halbes Leben lang als Maurer auf dem Bau geschuftet. Morgens um sieben hat ein Lastwagen die deutschen Arbeiter eingesammelt und abends um sechs wieder zurückgefahren. Seine Hände wären ohne die von seinen Kindern aus Deutschland geschickten Bandagen zu nichts mehr zu gebrauchen. Doch so kann er seinem Erwerb noch ausreichend nachgehen: Die Rente würde kaum zum Leben reichen, seine drei Kühe verschaffen ihm und seiner Frau das nötige Nebeneinkommen.

Die Versorgung des Dorfes erfolgt mittlerweile über die zahlreichen Tante-Emma-Läden, die in den vergangenen zehn Jahren mit dem Zuzug der kirgisischen Bevölkerung aus dem Boden geschossen sind. Es gibt das standardisierte Essenssortiment von Märkten dieser Art, andere Gegenstände umfassen aber nur das Notdürftigste: zwei verschiedene Schuhmodelle, ein Block Seife, ein paar Teller, Streichhölzer. Noch bis in die Zweitausender musste man dafür ins nächste Dorf laufen.

Dann bringt uns Hoffmann zur Molkerei, in der sein einziger in Rot-Front verbliebener Sohn seinen Lebensunterhalt verdient. Die anderen drei Kinder haben in Deutschland bereits ihre eigenen Großfamilien gegründet, irgendwo bei Bielefeld. Die Straße ist so kaputt, dass selbst der Mitsubishi-Geländewagen nur extrem schleppend vorankommt.

„Als ich Kind war, haben wir dort auf grünen Wiesen gespielt“, sagt David und zeigt auf gigantische Hügel aus Plastikmüll, die sich am Straßenrand auftun, „und da drüben, das waren blühende Obstgärten, als die Deutschen sich noch darum gekümmert haben.“ Heute ist es ein Feld toter Bäume. Hangaufwärts liegt die Molkerei, an den Ausläufern des Tienschan-Gebirges.

Hinter der Molkerei beginnt das Nichts.

Umgeben von den Ruinen einiger Häuser ist sie einer der raren Arbeitgeber hier. Die Bergluft tut den Kühen sicherlich gut, hörbar schlabbern sie ihre Getreidegrütze. Vielleicht um es den Arbeitern zu ersparen, gleich zweimal täglich die unbefahrbare Straße zur Fabrik zu überqueren, hat man einen düsteren Schlafplatz eingerichtet. Jemand muss sowieso immer nach den Kühen schauen. Alleine. Nachts. „Gottverlassen“ würde das Örtchen adäquat beschreiben.

Wie selbstverständlich laden die Hoffmanns zum Abendessen. Man tischt alles auf, was ihre Scholle hergibt mit Ergänzungen aus dem Tante-Emma-Laden. Religiöse Erwähnungen mehren sich stetig. „Gott hat uns dieses Land zugewiesen“, sagt Davids Frau als Begründung für ihr Ausharren.

Es ist von Wunderheilungen die Rede, von felsenfestem Vertrauen auf ihren Herrn. Ein gottloses Leben, hier? Das wäre unerträglich. „Den Kaffee haben die Kinder mal aus Deutschland mitgebracht“, erzählen die beiden über das Jacobs-Glas, aus dem nun russisches Granulat geschöpft wird.

Es ist ein Leben, das in Deutschland museal anmuten würde. Hier, in solch einem entlegenen Winkel ist es möglich, globalen Modernisierungsprozessen so lange wie nur möglich Einhalt zu gebieten. Mit Erfolg. Hier und da wurden technische Geräte angeschafft, die das Leben etwas einfacher machen. Der Rest bleibt, wie er immer war.

David Modro

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