… passieren mit Beschäftigten ganz wundersame Dinge, die den Betrieb auf den Kopf stellen und eher geschäftsschädigend sind. So sehe ich das. So sieht das aber nicht der Chef, wie es scheint.

Heute musste ich in meiner Bäckerei länger warten als üblich, weil eine der beiden Verkäuferinnen hektisch mit den Brötchen und Teilchen rumnestelte, um sie hübsch zu arrangieren, anstatt sie zu verkaufen. Dabei störte sie sogar noch die verkaufsorientierte Kollegin, der schon der Schweiß auf der Stirne stand, indem sie um sie herum und über sie hinweg langte, um zu sortieren und arrangieren, was das Zeug hielt. So habe ich das hier noch nie erlebt. Normalerweise geht es darum, die Schlange möglichst kurz zu halten und die Kunden flott und freundlich zu bedienen – was ganz im Sinne von uns Kunden wäre, womit wir gut bedient und gut gelaunt wären und gerne wiederkämen. Ich wurde ungeduldig und unmutig.

Beim Arrangieren schielte die Verkäuferin immer nach draußen und lüftete schließlich das Geheimnis der regressiven Kundenorientierung, indem sie ihrer Kollegin zuflüsterte: „Wenn gleich der Chef kommt …“ Ja klar, natürlich, hätte ich mir ja denken können. Schließlich habe ich es zig Mal in meinen Nebenjobs erlebt. In einer Pflegeeinrichtung habe ich mir die Hacken wundgelaufen und unter Verzicht auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse mit mehreren Bewohnerinnen gleichzeitig jongliert, um sie nicht in ihrem Übel sitzen zu lassen. Ich war sicht- und nachweisbar fleißig wie eine Biene, aber dann der Anpfiff einer Schwester: Ich solle mir gefälligst die Ärmel hochkrempeln, so, wie ich hier herumliefe, sähe das nicht nach Arbeit aus! „Was ist, wenn der Chef kommt und dich mit langen Ärmeln sieht …!“ Und gutmeinend legte sie Hand an und krempelte mir hektisch und brutal die Ärmel hoch. In dieser Zeit hätte ich locker mal zwei Damen von ihrem Pott herunterhieven und dafür zwei andere draufsetzen können – was in meinem Sinne eigentlich auch im Sinne des Chefs hätte sein müssen. Aber nun gut …

In einer anderen Pflegeeinrichtung wurde das Ganze ad absurdum geführt, als sich das Kontrollteam zu einem Überraschungstermin ankündigte. Auf diesen geheimen Termin arbeitete das komplette Pflegeteam zwei Wochen lang hin. Während wir jede Speiche und Schraube der Rollstühle polieren und die Winkel und Ecken in der Tiefkühltruhe auswischen mussten, blieben die Bewohner zwar ein bisschen auf der Strecke, aber nun gut, man muss halt Prioritäten setzen, wenn der Chef kommt. Denn es ging ja ums Blitzen und Blinken, und die Bewohner konnten wir schlecht polieren. Ich hatte zuvor noch nie eine Station erlebt, die sich so sehr um das Wohl der Bewohner bemüht. Alle haben sich über die Maßen und eigenen Grenzen engagiert, um den Bewohnern so etwas wie ein Zuhause zu bieten, in dem sie gemäß ihren individuellen Vorlieben gut versorgt sind und sich wohlfühlen. VOR der Ankündigung der Kontrolle hätte man in den Poritzen und zwischen den Zahnlücken der Bewohner keinen Schmutz finden können.

Ich kann mir nicht helfen – das erinnert mich an kommunistische und sozialistische Länder, wo vor bröckeligen Häusern Fassaden aus bemalten Holztafeln aufgestellt wurden, damit die Regierungschefs bei ihren Besuchen glauben durften, dass alles in Ordnung sei. In Sankt Petersburg steht noch heute, viele Jahre nach einer Parade, solch eine Fassade vor einem Haus und verdunkelt die Räume. Wenn der Chef kommt, drehen alle durch, Wahnsinn!

Julia Siebert

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