Wirtschaftsflüchtlinge, Schlepper und Tote an Grenzen. Was nach aktueller Flüchtlingsdebatte klingt, ist eigentlich nichts Neues in der Geschichte. Nahezu alle Migrationsströme weisen Parallelen auf. Dass diese zwischen der heutigen Migration in den europäischen Raum und der deutsch-deutschen Migration vor der Wende erkennbar sind, zeigt Historiker Clemens Villinger auf. Dabei kristallisiert sich ein Erklärungsmodell dafür, warum viele Menschen, die früher selbst in Unrecht und Mangel gelebt haben, sich heute vor denjenigen fürchten, die aus ähnlichen Umständen geflohen sind.

Von 1949 bis 1990 verließen etwa 3,8 von ursprünglich über 18 Millionen Einwohnern die Deutsche Demokratische Republik (DDR) in Richtung Westen. Im gleichen Zeitraum wählten etwa 600.000 Menschen den entgegengesetzten Weg und versuchten ihr Glück in der DDR. Neben politischer Unzufriedenheit gehörten fehlende Zukunftsperspektiven, Familienzusammenführungen, aber auch die wirtschaftliche Attraktivität der Bundesrepublik zu den häufigsten Fluchtmotiven. Aufgrund akuter politischer Verfolgung flüchteten jedoch die Wenigsten. Nach heutigen Bewertungskategorien wären die meisten aus der DDR Geflüchteten wahrscheinlich als „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu bezeichnen und hätten somit wohl nur eine geringe Aussicht auf Asyl. Auch eine Bewertung der DDR als „sicheres Herkunftsland“ erscheint angesichts der heutigen Dehnung des europäischen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durchaus als denkbar.

Vietnamesische Vertragsarbeiterinnen in einer Schuhfabrik in Frankfurt (oder), September 1989. | Foto: Hartmut Kelm

Bereits vor der Gründung der DDR stellte sich ihr Staatsgebiet als ein Raum dar, den Millionen von Flüchtenden und Vertriebenen am Ende des Zweiten Krieges durchquerten oder sich dort niederließen. Trotz der Staatsgründung beruhigten sich die Verhältnisse keineswegs, denn im Zuge der von Verhaftungen und Verfolgungen geprägtem Aufbauphase kam es zu einer erneuten Massenmigration in Richtung Westen. Auch nach der Aussetzung der Repressionen nach dem Tod Stalins blieb Flucht die wichtigste Möglichkeit, um staatlichen Zwangsmaßnahmen wie der Kollektivierung der Landwirtschaft oder der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung auf der Suche nach einem besseren Leben zu entkommen. Zu den zentralen Ereignissen der jüngeren deutsch-deutschen Migrationsgeschichte gehört der Bau der Berliner Mauer, der im August 1961 begann. Mit der Abriegelung der Grenze wollte die politische Führung der DDR die Fluchtbewegung endgültig stoppen und ihre innenpolitische Handlungsspielräume ausweiten.

Doch die letztlich trivialen und heute trotz aller Gegenbeispiele weitgehend ignorierten Feststellungen trafen auch für das Grenzregime der DDR zu: Grenzanlagen und Strafgesetze halten Menschen nicht von Flucht ab, militärisch bewachte Grenzen sind potentiell tödlich für jeden, der ihnen zu nahe kommt und erst die Existenz von Grenzsicherungen eröffnet das Geschäftsfeld der Fluchthilfe.

Zwischen 1961 und 1989 nutzten mehrere tausend Bewohner der DDR die Dienste kommerziell ausgerichteter Fluchthilfegruppen, die den Grenzübertritt auf verschiedenste Weise organisierten. Eine Flucht kostete in den 1970er Jahren zwischen 15.000 und 30.000 DM. Wie viele Menschen es auf eigene Faust versuchten und dabei scheiterten, starben oder verhaftet wurden ist bis heute nicht bekannt. Bisher erfasst sind 138 Todesopfer an der Berliner Mauer und mehrere hundert Personen, die an der deutsch-deutschen Grenze ums Leben kamen.

Trotz allem blieb die DDR auch als Zuwanderungsland attraktiv, wenn auch manchmal unfreiwillig. Der allergrößte Anteil am Zuzug von ausländischen Personengruppen entfiel auf die bis zu 500.000 in der DDR stationierten Sowjetsoldaten. Zusätzlich lebten über die Jahre hunderttausende sogenannte „Vertragsarbeiter“ aus damals sozialistischen Staaten in der DDR, die jedoch isoliert von der Bevölkerung in Wohnheimen untergebracht waren. Insgesamt konnte die DDR-Bevölkerung zwischen 1961 und 1989 nur sehr beschränkt Erfahrungen mit „Fremden“ und anderen Kulturen sammeln, zumal dies auch politisch nicht erwünscht war. Dementsprechend bestimmten Misstrauen, Gerüchte und Konkurrenz um Konsummöglichkeiten das Verhältnis von DDR-Bürgern und „Vertragsarbeitern“. Gerade die Abschottung nach außen und die Homogenisierung nach innen trugen zu einem nationalen Verständnis der klassenlosen Gesellschaft bei.

Der auf ostdeutschen Demonstrationen während der friedlichen Revolution geprägte Ruf „Wir sind das Volk“, der heute von rechtspopulistischen Bewegungen aufgegriffen wird, war eben nicht nur Ausdruck des Verlangens nach der Verwirklichung von Menschen– und Grundrechten, zu denen auch immer das Recht auf Asyl und Migration gehört, sondern auch eines nationalen Selbstverständnisses. Nach dem Ende der Wiedervereinigungseuphorie artikulierten sich erneut alte Mentalitäten, in denen „Fremde“ nicht als Bereicherung, sondern als Konkurrenten um Arbeitsplätze und Sozialleistungen wahrgenommen wurden.

Die jährliche Wiederkehr der deutschen Einheit am 3. Oktober darf deshalb nicht nur eine nostalgische Rückbesinnung auf die Selbstdemokratisierung der Ostdeutschen sein. Vielmehr kann die historische Reflexion dieses Datums als Ausgangspunkt für ein neues Narrativ genommen werden, das Pluralität, Offenheit und Toleranz in den Mittelpunkt einer Geschichte der deutschen Einwanderungsgesellschaft stellt.

Clemens Villinger, Doktorand am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam

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