Die Gemeinde der in die Schweiz immigrierten Russen wächst und wächst. Neben der vor kurzem in Genf gegründeten Filiale der berühmten Moskauer Lomonosow-Universität schießen auch russische Vereine wie Pilze aus dem Schweizer Boden. So zum Beispiel die „Association Russe de Fribourg“, deren Grundgedanke es ist, Immigrantenkinder mit der russischen Sprache, Tradition und Kultur bekannt zu  machen.

Das Klettergerüst neben dem Schulhaus „Vignettaz“ in Freiburg steht verlassen neben leeren Parkplätzen. Auf dem Asphaltboden schimmert matt ein Schachspielfeld und wartet vergeblich auf Könige, Bauern und Co. Denn es ist Samstagnachmittag, 13 Uhr. Die fünf Knaben, die auf dem weitläufigen Pausenplatz Hockey spielen, haben heute ausreichend Platz, ihren Rollschuhen freien Lauf zu lassen. Weit und breit ist niemand zu sehen. Die Türen zum Schulhaus sind zugesperrt. Doch dahinter wird wider Erwarten fleißig gearbeitet. In einem großen Saal im Erdgeschoß bringt Swetlana Wo-robjowa ihren Schülerinnen und Schülern die russische Sprache näher. Swetlana ist eine von zwei Lehrerinnen, die von der „Association Russe“ in Freiburg angestellt ist, damit die russischen Immigrantenkinder ihre Muttersprache und somit Kultur und Tradition ihrer Vorfahren nicht vergessen.

Russland gleich Wodka

Initiatorin und Präsidentin der „Association Russe“ ist Jelena Babaljan. Die gebürtige St. Petersburgerin lebt seit sechs Jahren in der Schweiz und hat selber drei Kinder. „Eigentlich ist mein jüngster Sohn schuld daran, dass ich die Association gegründet habe. Denn obwohl wir zu Hause Russisch reden, habe ich festgestellt, dass er Mühe hat, sich korrekt auszudrücken“, erzählt Jelena. Nachdem sie sich in ihrem Bekanntenkreis umgehört und dort ähnliche Probleme erkannt hatte, entschloss sie sich, die „Association Russe de Fribourg“ ins Leben zu rufen. Etwas vollkommen Neues und doch etwas Solides sollte es sein, mit dem Ziel, eine Sprach- und Kulturschule den Kindern anzubieten.

2002 startete das Projekt mit gerade mal zehn Schülern, die für zwei Stunden die Woche in Russisch unterwiesen wurden. Die Sprache ist teilweise auch Mittel zum Zweck. „Wir verwenden ein russisches Lehrbuch fürs Vorschulalter. Darin werden auch russische Folklore, Literatur oder die typischen Feste behandelt und den Kindern nahe gebracht. Denn für viele Schweizer ist Russland einfach gleich Wodka und ich wollte den Kindern ein anderes Bild der Heimat ihrer Vorfahren zeigen“, sagt Jelena Babaljan und erzählt weiter: „Das Neujahrsfest zum Beispiel ist bei uns sehr wichtig, und so gestalten wir mit den Kindern jeweils einen schönen Abend. Am Anfang war die Feier öffentlich. Da wurden wir allerdings regelrecht überrumpelt, es kamen etwa 200 Personen, darunter auch viele Schweizer.“

Doch die Aktivitäten außerhalb der Schulhauswände dürfen nicht zu kurz kommen. So nahmen die Kinder der „Association Russe“ vor vier Jahren zusammen mit anderen Gruppen an einer Installation des berühmten Freiburger Künstlers Hubert Audriaz teil. Und jedes Jahr werden Picknicks und Sommerlager für die älteren Schüler organisiert. Ganz im Stile der Pioniere der Sowjetzeit? Die ehrenamtliche Präsidentin Jelena Babaljan winkt ab: „Ich bin nicht nostalgisch, doch die Kinder freuen sich jeweils schon lange im Voraus, und deshalb führen wir es immer wieder durch.“

Lieber Französisch als Russisch

Heute nehmen 35 Schülerinnen und Schüler im Alter von zwei bis 14 Jahren in verschiedenen Gruppen am Unterricht teil. Für die Kleinsten gibt es eine lernorientierte Kinderkrippe, die älteren Schüler drücken jeweils mittwochs oder samstags die Schulbank. Die Schulbehörde des Schulhauses „Vignettaz“ stellt der „Association Russe“ zu diesem Zweck ein Schulzimmer gratis zur Verfügung. Einer dieser Schüler ist Juri, neun Jahre. Sein breites Grinsen offenbart eine noch breitere Zahnlücke, und sein Haar ist kurz geschoren. Nur die Stirnfransen sind verschont und somit etwas länger geblieben. Juri hat es faustdick hinter den leicht abstehenden Ohren. „Das hat die Lehrerin geschrieben“, sagt er in einem nicht ganz akzentfreien Russisch, als er sein fein säuberlich beschriftete Lernheft präsentiert. Juri besucht in Freiburg die Grundschule und nimmt einmal in der Woche am Russischunterricht teil. „Es hilft mir, damit ich die Wörter im Französischen und Russischen nicht verwechsle und weiß, wie man richtig schreibt“, erzählt er. „Im Lesen bin ich der Beste unserer Gruppe“, gibt sich Juri nicht bescheiden und fügt an: „Zudem mag ich die Lehrerin und die Spiele, die wir jeweils machen.“ Der Russischunterricht sei viel weniger streng als die gewöhnliche Schule. Seine anderen Schulkameraden wissen, dass er Russisch sprechen kann. „Einmal hat mich ein Freund gefragt, wie man ´Entschuldigung` auf Russisch sagt“, erzählt Juri strahlend, der in seiner Freizeit Eishockey und Piano spielt. Weiter gesteht er: „Mit meinen russischen Schulkameraden spreche ich meistens Französisch, aber sagen Sie das nicht meiner Mama.“

Verdienst-Medaille

Jelena Babaljan hat kaum die Tür des Klassenzimmers hinter sich zugezogen, da hat sie bereits eine Zigarette im Mund und das Handy am Ohr. „Weil wir so kleine Schulklassen haben, kann die Lehrerin stark auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen“, erklärt sie und schüttelt die Asche von ihrer dünnen Damenzigarette. 33 Franken kostet eine Lektion, bezahlt wird aber für 70 Lektionen – ein ganzes Schuljahr. Wer Mitglied der Association ist, bekommt Rabatt. Mit diesem Geld können die Lehrer und Unterrichtsmaterial bezahlt werden. Jelena selber ist aktiv bei der Suche nach geeigneten Lehrmitteln, sie bestellt Hefte, macht Fotokopien, organisiert das Ferienhaus fürs Sommerlager und hat Kontakt zu vielen Organisationen und offiziellen Stellen. Dies hat ihr vor einiger Zeit die Medaille der Freundschaft zwischen Russland und der Schweiz eingebracht, die sie in der Russischen Botschaft in Bern entgegennehmen durfte. Stolz präsentiert sie das Foto. Jelena Babaljan gehört zum Vorstand der Association. Auch Dimitri de Faria e Castro arbeitet mit, der gerade in seinem BMW vorgefahren ist, um Jelena die aus Russland mitgebrachten Lehrbücher zu übergeben. Dimitri ist schon lange in der Schweiz, hat sogar in Freiburg studiert. Sein Haar ist grau, seine Augen himmelblau und das Doppelkinn markant. Beim Reden öffnet er seine Lippen kaum. Während der Sowjetzeit war er bereits Mitglied in einem russischen Verein in der Schweiz und meint: „Heutzutage ist es nicht mehr dasselbe. Für drei Russen braucht es fünf verschiedene Organisationen. Doch die Schule ist eine gute Sache, deshalb engagiere ich mich auch in diesem Verein.“

Unterdessen hat Jelena Babaljan eine Visitenkarte der „Association Russe de Fribourg“ aus der Tasche gezogen und meint beinahe ein wenig beschämt: „Die Internetseite ist leider nicht auf dem neuesten Stand, aber ich bin im Moment ziemlich ausgelastet, einen Job habe ich ja auch noch.“ Doch die gelernte Ökonomin hat Gefallen gefunden am Organisieren und an der Vereinsarbeit und hofft auf bessere Zeiten: „Ich träume davon, dass wir einmal einen festen Sitz für unsere Organisation haben könnten, um dort unser Material zu deponieren. Und übermorgen fahre ich nach St. Petersburg zu einem Seminar von Professor Sajzew, der ein neues Lehrbuch für die Vorschulstufe entwickelt hat.“ Dass der Sprachunterricht der Association Russe nur ergänzend sein kann, ist für die Präsidentin klar: Ihre Kinder in eine russische Schule in der Schweiz zu schicken, ist ausgeschlossen. „Schließlich wollen wir ja hier in der Schweiz alt werden.“

Von David Kunz

03/03/06

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