In ihrem Romandebüt „Die Fische von Berlin“ erzählt die russlanddeutsche Autorin Eleonora Hummel die Geschichte ihres Großvaters aus der Perspektive eines Mädchens – ohne naiven Weichzeichner und in einer klaren Sprache, die den Schrecken der Vergangenheit noch einmal hervortreten lässt

Eleonora Hummel „Die Fische von Berlin“

In ihrem Romandebüt „Die Fische von Berlin“ erzählt die russlanddeutsche Autorin Eleonora Hummel die Geschichte ihres Großvaters aus der Perspektive eines Mädchens – ohne naiven Weichzeichner und in einer klaren Sprache, die den Schrecken der Vergangenheit noch einmal hervortreten lässt

„Wer bestimmt denn, wofür sich ein Leben eignet?“, fragt Alina und bekommt dieses eine Mal keine Antwort vom Großvater. Seines tauge ganz und gar nicht als Geschichte für einen Schulaufsatz, hatte er behauptet. Dabei wollte Alina nur seine Erlebnisse aus dem Krieg aufschreiben, wie es alle Kinder ihrer Klasse taten, deren Großväter als Veteranen gefeiert werden. Dass ihr Großvater im Krieg Heldentaten vollbracht haben musste, davon war sie bisher überzeugt. Doch nicht nur wegen des Taschenmessers unter seinem Kopfkissen, des Fotos mit der Aufschrift „Igarka, 1956“ und seiner von Eltern und Geschwistern nur vage angedeuteten Krankheit ahnt Alina, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt.

Jemand hat die Geschichte des Großvaters doch niedergeschrieben, Eleonora Hummel in ihrem Erstlingsroman „Die Fische von Berlin“. Es ist die Geschichte der Familie Schmidt, Russlanddeutsche, die in Akmola, im „Weißen Grab“ im Norden Kasachstans leben. Stets auf gepackten Koffern sitzend, sehnen die Eltern Alinas die Ausreise nach „Deitschland“ herbei – in ein Land, das paradiesisch sein muss, das das Mädchen aber nicht einmal im Atlas findet. Über den Umweg Kaukasus gelingt der Familie schließlich die Ausreise nach Berlin, dahin, wo der Großvater als junger Mann schon einmal gelangt war, wo er seine Liebe zurücklassen musste, um unter Zwang zurückzukehren in ein Land, das nie sein eigenes war und in dem selbst die größten Fische nie die „richtigen“ sind.

Die Geschichte der Schmidts ist Eleonora Hummels eigene. Die Autorin, 1970 in Kasachstan geboren und selbst Russlanddeutsche, zog als Zehnjährige mit ihren Eltern in den Kaukasus, von wo die Familie 1982 in die ehemalige DDR übersiedelte. Hummel hat sich ihre Herkunft und Geschichte durch Familienaufzeichnungen und Recherchen in Archiven erlesen. Im Roman ist Alina diejenige, die dem Großvater nach und nach entlockt, was außer ihr und dem Leser ohnehin alle wissen.

Wegen ihrer roten Haare, der Sommersprossen und vor allem ihres Nachnamens, der sie stets als „Nemka“ überführt, fühlt sich Alina überall fehl am Platze – in ihrer Familie, wo alle schwarzes Haar haben und sie als Nachzüglerin meist nur im Wege steht, in der Schule, wo man ihr „Faschistin“ nachruft, beim Spiel mit Freunden, wenn sie selbst als „Amerikanerin“ den Krieg zu verlieren hat. Niemand interessiert sich für sie. Doch als unauffällige Beobachterin nimmt sie die Brüche, die sich durch ihre Umgebung ziehen, aufs Genaueste wahr.

Während Alinas Eltern im Morgen leben, der Vater immer wieder gegen die Schikanen der Behörden anrennt und jeder Tag den erlösenden Brief bringen kann, freut sich Alina Woche um Woche auf den sonntäglichen Besuch bei den Großeltern. Sie sieht Großmutters rundem Rücken beim Werkeln in der Küche zu, lauscht mit dem Großvater der „Stimme Amerikas“ aus dem Radio und merkt, dass die Erwachsenen etwas verschweigen. Alina beginnt zu fragen, und ganz unerwartet erhält sie Antworten. Ihr Großvater, derjenige, der am wenigsten redet, öffnet sich und zieht das Kind ins Vertrauen.

Vor den Augen Alinas breitet sich so das ungeheuerliche Ausmaß der Geschichte aus, in deren Zug ein Volk zwischen die Mahlsteine geriet. Durch die Berichte des Großvaters hört die Enkelin erstmals von den „Großen Säuberungen“, von Volksfeinden, NKWD und Arbeitsarmee. Sie erlebt nochmals die Enttäuschung der Russlanddeutschen, die im Krieg von den „eigenen Leuten“ bombardiert und als Ostarbeiter in den Westen geschickt wurden. Sie erfährt, weshalb der Großvater in Igarka, in Sibirien war, weshalb er hinkt und glühendheiße Öfen liebt.

Fast zwangsläufiger Begleiter des Verstehens ist oft die Erkenntnis, mehr heraufbeschworen zu haben, als man wissen will. Alinas Schritt in die Erwachsenenwelt verläuft nicht schmerzfrei. Der Großvater war in der Tat kein Kriegsheld, doch sein Verrat an ihr ist ein anderer. Dass Alina diesen Verrat bewältigt, gehört zum Prozess, mit dem sie sich im Zuge des Verstehens aus ihrer Rolle des isolierten, unwissenden Kindes befreit. Für den Großvater wird sie zur Instanz, bei der er ein letztes Mal Gehör findet und deren Urteil er sich stellt, auch wenn es für ihn keine wirkliche Rolle mehr spielt. Am Ende ist zwischen beiden nicht alles gesagt, doch Alina findet ihre „richtigen“ Fische.

Hummel erzählt die Annäherung von Großvater und Enkelin und deren Familiengeschichte aus der Perspektive des Mädchens, doch ganz ohne naiven Weichzeichner. Vielmehr baut ihr Roman auf jenen Pragmatismus, mit dem Kinder die Realität oft leichter bewältigen als zwischen den Verletzungen des Lebens lavierende Erwachsene. Eben diese Einfachheit lässt die Schrecken der Vergangenheit mit umso größerer Klarheit hervortreten, und eben dies macht den nur 200 Seiten langen Roman so anrührend. Das in dieser Sprache erzählte Thema der Russlanddeutschen macht neugierig auf die nächsten Werke der Autorin.

„Die Fische von Berlin“, Eleonora Hummel, Steidl-Verlag, 2005, 223 Seiten, 18,00 Euro

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