Unsere Kolummnistin Julia Siebert hat zwei Jahre in Russland gelebt und hilft jetzt in Köln Aussiedlern bei der Integration. In der DAZ schreibt sie von nun an regelmäßig über Ihre Erfahrungen in Deutschland.

Krankheiten, so meint man, sind international. Na gut, in den jeweiligen Ländern sind die Erkrankungen und Anfälligkeiten mehr oder weniger populär. Aber grundsätzlich ist der Homo sapiens letztendlich hier wie dort ein Organismus, der lateinisch bestimmbar ist. Und so können wir auch mit unseren Zipperleins überallhin fahren, wo die Behandlung eben am günstigsten ist. Manche fahren nach Indien oder Thailand, um sich die Zähne reparieren zu lassen. Der totale Renner: In der Türkei können sich Brillenträger billig die Augen lasern lassen. Und ist es mal etwas Ernsteres, dann leben nach Auffassung mancher die wahren Spezialisten sowieso nur in Amerika. Also, alles international – wenn da nicht der Patient ein Wörtchen mitsprechen würde. Das ist zwar manchen Ärzten eher lästig, manchmal aber doch wichtig für Diagnose und Behandlung. Da will der Herr Doktor wissen, ob der Schmerz eher stechend, pochend, ziehend oder brennend ist. Dies zu beantworten, fällt selbst Muttersprachlern schwer. Vielleicht eher ziehend? Oder doch pochend? Manchmal sticht es auch. Erst recht können viele Zuwanderer wenig mit dem herkömmlichen Hausarztvokabular anfangen. Eine türkische Mutter beschreibt ihre Rückenschmerzen eher so: „Es ist, als ob mir jemand ein Schwert in den Rücken rammt, es von der Schulter bis nach unten zieht und dabei immer das Schwert hin und her bewegt.“ Tja, da steht er nun, der deutsche Arzt und weiß nicht, was er auf seinem Formular ankreuzen soll. Da hilft auch kein Dolmetscher. Noch schwieriger wird es, wenn es um psychosomatische Erscheinungen geht – wenn man nicht davon ausgeht, dass sowieso jede Erkrankung mit psychischen Faktoren zusammenhängt. Zumindest aber ist erwiesen, dass sich die mentale Einstellung auf den Heilungsprozess auswirkt. Aber „Hoppla!“, wir kommen vom Wege ab. Gehen wir noch mal einen Schritt zurück. Was bei uns eindeutig ein psychischer Schmerz ist, kann sich in anderen Kulturkreisen als körperliche Beschwerden ausdrücken. In Deutschland ist eine Depression klar eine krankhafte Niedergeschlagenheit. Unter türkischen Migranten ist die Depression eher eine leichte Verstimmung. Als Krankheit gibt es sie nicht. Das heißt, gibt es schon. Aber in anderer Form. Depressionen werden von der türkischen Bevölkerung als körperliche Schmerzen wahrgenommen. Kein Wunder also, dass einige Patienten viele Jahre falsch behandelt worden sind. Aber wer konnte das auch ahnen? Wie wir sehen, steckt die Sprach- und Kulturforschung noch voller interessanter Überraschungen. Es gibt immer mehr Einrichtungen und Initiativen, die sich diesem Thema der Interkulturalität im Gesundheitsbereich widmen. Das bringt nicht nur Erkenntnisse, sondern schafft auch Arbeitsplätze. Was wiederum beweist, dass die Zuwanderung eine Bereicherung darstellt – wenn man sich konstruktiv mit ihren Erscheinungen befasst.

Von Julia Siebert

31/03/06

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