In Stockholm trafen sich Ende Juli Osteuropa-Experten aus aller Welt, um sich auf dem achten Kongress des International Council for Central and East European Studies (ICCEES) über aktuelle Forschungsfragen sowie politische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen in Russland und Osteuropa auszutauschen. Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der bipolaren Weltordnung rückt dabei Zentralasien zunehmend ins Blickfeld der Wissenschaftler.

/Bild: photos.iccees2010.se. ‚Osteuropa-Experten im Gespräch: „Blickwinkel Richtung Asien erweitert“.’/

Die Entscheidung des Leibarztes von Michail Gorbatschow hatte den Stockholmer Organisatoren einen Strich durch die Rechnung gemacht: Sein Gesundheitszustand hindere ihn, den Weltkongress der Osteuropaforscher mit einer Rede zu eröffnen, hieß es in einer Erklärung. Gorbatschows langjähriger Dolmetscher verlas stattdessen das Manuskript, während die Gäste bereits nach den schwedischen Heringshäppchen schielten. Doch Gorbatschow und Perestroika, worüber im Anschluss auch der emeritierte Politikwissenschaftler und Historiker Archie Brown aus Oxford reflektierte, stehen für das Gestern einer ganzen Forschergemeinde. Obschon die Verdienste des elder statesman durchaus in Asien zu suchen sind – sein Besuch in Peking im Frühling 1989 wird allzu häufig vergessen – verbindet selbst die akademische Welt mit Gorbatschow zuerst das Ende der Teilung Europas. Diese Welt, Osteuropa-Experten unterschiedlicher Disziplinen, hat bereits ihren Blickwinkel über Osteuropa hinaus Richtung Asien erweitert: Das Motto des Kongresses lautet „Eurasia – Prospects for a wider communication“.

Ideologiefreies Diskussionsforum

Der nunmehr achte Kongress des International Council for Central and East European Studies (ICCEES) Ende Juli in Stockholm hat nur noch wenig mit seinen Vorläufern gemein. Auf dem Gründungskongress 1974 in Banff, Kanada, waren lediglich Wissenschaftler der westlichen Staatenwelt anwesend. Ins englische Harrogate 1990 reiste erstmals eine größere Forschergruppe aus den ehemaligen Ostblockstaaten. Der alle fünf Jahre tagende Kongress wandelte sich seither von einer vom Kalten Krieg gezeichneten Veranstaltung hin zu einem ideologiefreien Forum der Gegenwart des östlichen Europas. Und genau darin lag das paradoxe Problem, für das sich nun eine Lösung abzuzeichnen scheint. Die rund anderthalb Tausend Wissenschaftler in Stockholm – Slawisten, Politologen, Soziologen, Historiker, Linguisten und Vertreter vieler weiterer Disziplinen – lehren und forschen auf allen fünf Kontinenten. Insbesondere die Zahl der asiatischen Teilnehmer hat verglichen mit dem letzten Kongress in Berlin 2005 stark zugenommen. Sechzig Vertreter aus Japan sind angereist, rund zwei Dutzend Kollegen aus Südkorea, China, dem Iran und Indien. Zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs scheint damit eine weitere Mauer durchbrochen: Wo immer das Konferenzgespräch auf Asien fällt, herrscht Hochbetrieb in Stockholm.

Natürlich werden auch in der schwedischen Hauptstadt die klassischen Themen bedient, etwa an einem Runden Tisch über die Entwicklung der russischen Geschichtspolitik, an dem die Rolle rückwärts in den russischen Archiven einhellig beklagt wird. Doch die Musik spielt nicht bei den Osteuropa-Historikern, die über verschlossene und verschollene Archive referieren. Sie spielt erst recht nicht bei über „Puschkin in den 1830ern“ forschenden Literaturwissenschaftlern. Der Reiz dieser Stockholmer Tage geht aus von Zentralasien statt Mittelosteuropa, von der Wirtschaft und Geopolitik statt der Geschichte und der Literaturwissenschaft. Und immer dann, wenn sich nationale Emotionen mit akademischer Professionalität paaren, knistert die skandinavische Sommerluft.

Machtansprüche in Zentralasien

Yang Cheng vom Zentrum für russische Studien in China prophezeit in seinem Referat über die Shanghai Cooperation Organisation, dass es nach dem Machtspiel zwischen Russland und Großbritannien im 19. Jahrhundert kein neues Great Game um Zentralasien geben werde. Der Chinese formuliert zuerst behutsam, liest in den Augen der Zuhörer die Reaktion auf jeden seiner Sätze ab. Yang betont, dass er trotz seiner früheren Tätigkeit für das Außenamt der Volksrepublik lediglich seine akademische Privatmeinung wiedergebe. Der Mann beginnt dieses Unterfangen mit einer Anekdote von einer Konferenz in Schanghai 2009, die er vorgibt, selbst nicht zu mögen: In Schanghai letztes Jahr also habe ein Abgeordneter der russischen Staatsduma seine chinesischen Kollegen darauf hingewiesen, dass Zentralasien das „Mädchen Russlands“ sei. „Wie könne China – ein Freund Russlands – es wagen, uns die Frau auszuspannen“, habe der russische Abgeordnete in die Runde gefragt, worauf ein chinesischer Kollege erwidert habe, dass jemand sich um die Verlassene doch kümmern müsse.
Das mehrheitlich angelsächsische Publikum in den vollen Rängen des Saals nimmt Yang die Aversion für diese Sicht der Dinge schwer ab. Doch es ist ein junger usbekischer Wissenschaftler, der die akademisch missbilligende Stille auf seine Weise durchbricht. „Wir gehen nicht fremd. Und überhaupt, wir sind kein Mädchen von irgendjemand“, sagt er. Und was in seinem Kommentar dann folgt ist mehr als ein zwischen den Zeilen verpackter Imperialismus-Vorwurf an die Adresse Pekings.

Yang entschärft die selbst provozierte Situation, indem er die länderübergreifende Zusammenarbeit betont: „Russland, China und die Republiken Zentralasiens sitzen in einem Boot“, beschwichtigt er. Ohnehin griffen die ganzen Neoimperialismus-Modelle zu kurz und ignorierten die komplexe Situation vor Ort, in der die großen Mächte im Kampf gegen Drogen, Terrorismus und in so vielen anderen Fragen kooperieren müssten. Schließlich seien es die zentralasiatischen Nationen selbst, die von der Interessenkonkurrenz profitieren würden. „Was ist die Rolle der USA, was die Europas?“, fragt ein schwedischer Friedensforscher schließlich. Amerikas Präsenz sei von vorübergehender Dauer. Und die 2007 von den Deutschen angestoßene Zentralasien-Initiative der Europäischen Union käme viel zu spät und sei daher nicht der Rede wert. Yang lächelt. Für einen Moment vergisst er seine diplomatische Kreidesprache.

In Stockholm wird Eurasien neu verhandelt. Der Zank um Zentralasien ist ein wichtiges Konfliktfeld, welches den Osteuropa-Wissenschaften neue Kraft verleiht. Wie weit die Forscher in diesem neuen Bereich vorankommen, wird in fünf Jahren deutlich werden: 2015 trifft sich die kleine Welt der Osteuropa-Experten wieder – in Makuhari, Japan.

Von Sören Urbansky

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