In der Theorie ist bekanntlich vieles schlüssig und einfach. In der praktischen Umsetzung steht man meist wie der Ochs vorm Berg. So auch bei der Kommunikation, Integration und Zivilcourage. Warum Integration wichtig ist, kann man stundenlang und seitenweise argumentieren, da Papier geduldig ist. Doch was sagt man einem dicken bösen Mann, der so gar nicht geduldig ist? Da ist bekanntlich guter Rat teuer, und ich hätte ein prima Fallbeispiel für ein Training in Sachen Zivilcourage und Kommunikation.

Und das geht so: Drei Personen stehen hintereinander auf einer Rolltreppe, die zu einem Bahngleis führt. Zuoberst ich, hinter mir ein dicker böser Mann, hinter diesem eine junge Frau mit dunklem Teint und Nonnenkappe, weil heute nämlich Karnevalsanfang ist. Die junge Frau möchte an dem Mann vorbei und fagt: „Darf ich bitte mal?“ Der dicke Mann sagt: „Nää!“ Ich drehe mich abrupt um und denke: „Wie bitte?!“

Szene 2: Die junge Frau versucht es erneut, immer noch genauso freundlich: „Darf ich bitte mal?“ Der dicke Herr sagt immer noch: „Nää!“ – jetzt deutlich unfreundlicher und ergänzt: „Die soll erst mal das Kopftuch abnehmen!“ Ich finde endlich Worte, die da lauten: „Ey, wat soll der Scheiß?! Lassen Sie gefälligst die Frau in Ruh!“ Daraufhin passiert nichts. Ich komme als erste auf dem Bahnsteig an und stelle mich kampfeslustig auf. Der Herr geht, ohne mich zu beachten, weiter. Die junge Dame mit der Nonnenmütze geht ebenfalls ihres Weges, als wäre nichts passiert. Ich bleibe stehen, wundere mich und bleibe ratlos, was in solch einem Fall zu tun sei.

Die erste Frage, die sich mir stellt: Darf ich eine Frau verteidigen, die augenscheinlich gar nicht verteidigt werden will beziehungsweise in diesem Vorfall keinen großen Angriff erkennt? Muss die Haltung des vermeintlichen „Opfers“ bei der Zivilcourage eine Rolle spielen? Oder hätte ich mir den dicken bösen Mann sowieso vorknöpfen müssen? Zweite Frage: Heißt Zivilcourage, dass alles erlaubt ist, was Einmischen ist, inklusive provozierender Beleidigungen oder sollte es zumindest halbwegs pädagogisch wertvoll sein? Wenn ich mit jemandem kommunizieren will, sollte dann nicht gewährleistet sein, dass derjenige wenigstens in Ansätzen aufnimmt, was ich sage?

Und wenn ich ihn provoziere und er dann mich angreift und ich dadurch von der Retterin zum Opfer werde und andere Leute zur Zivilcourage nötige, bin ich dann immer noch eine Heldin? Hat der Mann nicht vielleicht sogar das Recht, selbst zu entscheiden, ob er einer jungen Dame den Weg freimachen will oder nicht? Was ja immerhin nicht ganz einfach ist, wenn man auf einer schmalen Rolltreppe steht, dick ist und genervt von dem karnevalistischen Drängeln.

Die Frage ist auch: Hat er ihr wirklich etwas angetan? Gut, er hat sie nicht vorbeigelassen. Er war auch nicht besonders freundlich. Nicht gut, er hat sich gegen ein verwechseltes Kopftuch geneigt. Und ganz und gar nicht gut, dass der dicke böse Mann eine solch große Aversion gegen Kopftücher hat, dass er alles, was nur vage so aussieht, beschimpft. Aber gegen das Grundgesetz hat er damit sicher nicht verstoßen. Da ich sehr viele Fragen und keine Antwort habe, bin ich gespannt, was die Experten hierzu sagen. Rückmeldungen und sachdienliche Ratschläge für solche Situationen sind ausdrücklich und herzlich willkommen!

Julia Siebert

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